S.P.O.N. - Fragen Sie Frau Sibylle Pass auf, Vorsicht, alles ist gefährlich!
Er hatte die Luft-Lücke geschlossen. Mit Isolationsschaum. Da war Sonne eingedrungen. Mittag, es war Zeit für die Vitamin-D-Creme, mit der er sich alle zwei Stunden befeuchten musste. Wie konnten immer noch Menschen Sonnenlicht auf ihre Haut lassen. Idioten! Er trat gegen die Gummiwand. Die Aggressionsschübe waren unvermittelt stark, ein weiterer Grund das Haus nicht zu verlassen. Dieses HAUS verlassen, das ihm seit er denken konnte, Angst gemacht hatte.
Erinnerte er sich an die frühesten Bilder, die er gespeichert hatte, dann sah er die besorgten Gesichter seiner Eltern, die ihm einen Helm und Knieschützer anzogen und ihn dann in einem mit Schaumgummi ausgelegten Innenhof bei jedem Tritt auf dem Dreirad begleitetet hatten. Das Fahrrad mit den Stützrädern und der neue, größere Helm, folgten ein paar Jahre später, aber da war sein Ritalin schon so perfekt eingestellt, dass die Angst wie ein Körperteil geworden war.
Draußen waren Menschenstimmen zu hören. Er zuckte kurz zusammen. Menschen kannte er nur in Form von Erwachsenen. Zu Kindern wurde er ab und zu gefahren, nach vorheriger Terminabsprache. Er erinnerte sich, nicht genau zu wissen, was er mit diesen sogenannten anderen Kindern dann anstellen sollte. Der Ton war falsch und verklemmt, die Eltern immer anwesend, und das war gut so. Er konnte sich ein Leben ohne die Anwesenheit seiner Eltern nicht vorstellen. Er hatte jeden Moment mit ihnen geteilt. Das Lernen, der kontrollierte Ausgang, und sie hatten ihm gesagt, wovor er sich in Acht nehmen musste. Vor Fremden. Vor Autos mit Fremden. Vor dem Internet, vor Geschlechtskrankheiten (später). Davor, nicht früh genug Fremdsprachen und ein Instrument zu lernen, vor UV-Strahlen, Baden mit vollem Magen, Untiefen, Gewitter, der Börse, den Lehrern, Tsunamis und dem Verkehr. Der Hauptfeind. Darum ging er kaum mehr raus, seit die Eltern gestorben waren.
Eine gute Kindheit - im Wagen seiner Eltern
Seinen Job konnte er wunderbar von zu Hause erledigen, einen Fernseher gab es nicht, der war böse, Freunde gab es nicht, wo hätte er welche treffen sollen? Er war seinen Eltern unendlich dankbar, dass er so eine unbeschwerte Jugend hatte. Dass er nie über Zäune klettern musste, sich nie verletzt hatte, dass es in der Wohnung keine Keime gab, und er gelernt hatte, sich immer und überall zu desinfizieren und aufzupassen. Er juckte sich, und schlug kurz mit dem Kopf gegen die Wand. Das Ritalin und seine minimalen Nebenwirkungen. Scheiß der Hund drauf.
Eine gute Kindheit. Die meist im Wagen seiner Eltern stattfand. Mit seinen fortschrittlichen Eltern, die beide halbtags arbeiteten, um bewusst irre viel Zeit mit ihm verbringen zu können. Unentwegt. Zeit. Mit Vater oder Mutter und nun waren sie nicht mehr da und hatten ihn alleine gelassen mit dem Scheiß-Ritalin, das nicht mehr wirkte, mit der Gürtelrose und der wunden Haut, weil er gegen die Welt allergisch war. Geborgen fühlte er sich nur im Fond eines Allradwagens, den er nicht hatte, weil seine Eltern es zu gefährlich gefunden hatten, das Autofahren, und weil er nicht mit einem Integralhelm hinters Lenkrad gepasst hatte. Er legte sich seinen Ganzkörperschutzanzug an, und verließ unter größter Anstrengung die Wohnung, sich immer an die Wände drückend, der Verkehr! Nach Einbruch der Dunkelheit.
Die Sonne! Ab und zu musste man die Wohnung verlassen, Das war furchtbar. Er schlug nochmals mit dem Kopf gegen die Wand. Es war ein Segen, in der Zeit geboren worden zu sein, als die Eltern die vollkommene Kontrolle über die Kinder zu ihrem Lebensinhalt gemacht hatten, verdammte Scheiße.
