Koch-Schock mit Jamie Oliver Tote Küken, blutige Hühner, guten Appetit!

Ausgerechnet beim Krawallsender RTL II wurde ein geplanter Skandal zum Lehrstück: Starkoch Jamie Oliver tötete Hühner vor laufender Kamera - und prangerte damit die Massentierhaltung an.
Von Jan Freitag

Eigentlich ist Jamie Oliver die Liebenswürdigkeit in Person: Menschlich der Traum unzähliger Schwiegermütter; beruflich ein strebsamer Karrierist und dennoch Sympathieträger; optisch der nette Junge von nebenan; persönlich ein Mann mit Prinzipien. Und dann macht der freundliche Starkoch so was!

Langsam führt er einen Elektroschocker zum Kopf eines aufgehängten, lebendigen Hühnchens, betäubt das zappelnde Etwas mit einem Stromstoß und lässt es mit einem Stich durch den Schnabel vor laufender Kamera ausbluten. Barbarisch, so mögen viele denken. Wie kann man nur, zur besten Sendezeit …

Man kann, durchaus, wenn man eine Mission hat. Und Jamie Olivers Mission heißt: Die Menschen vor den Bildschirmen davon zu überzeugen, dass unsere Art der Nahrungsmittelproduktion nicht nur absurd, inhuman und lebensfeindlich ist, sondern allen Informationskanälen der vernetzten Welt zum Trotz ein Mysterium bleibt, das selbst aufgeklärte Verbraucher nicht in allen Dimensionen erfassen.

Jamie Oliver durfte im Fernsehen schon manch heilige Kuh schlachten. Er hat sich über fettige Schulkantinenkost aufgeregt. Er hat die ungesunden Essgewohnheiten der Unterschicht angesprochen. Doch dass er zu Beginn des Jahres im englischen Channel 4 die Methodik der Federviehwirtschaft am sterbenden Objekt verdeutlichte, ist eine neue Dimension des Erziehungsfernsehens.

Er exekutiert ein Huhn, live und vor Publikum

Die Aufmerksamkeitsökonomie der Mediengesellschaft kennt dafür den Begriff "Skandal", und so hat sie vorab auch darüber berichtet: Jamie Oliver, der Gourmet mit sozialer Ader, ökotrophologischem Sendungsbewusstsein und guten Entertainerqualitäten, exekutiert erst ein Huhn, live und vor Publikum, später dann vergast er Küken.

Skandalös, was da also am gestrigen Montag bei RTL II als synchronisierte Deutschlandpremiere zu sehen war! Fragt sich nur, wo eigentlich der Skandal liegt - in der Tatsache, dass unser Konsumverhalten Unmengen von Lebensmitteln unter den Produktionsmethoden der Folter erfordert? Oder im Umstand, dass dies erst dann Anstoß erregt, wenn man dabei auch noch zusehen muss - bevor man herzhaft zubeißt?

Dass ausgerechnet RTL II dieser Debatte nun einen Schub verlieh, darüber konnte man sich schon wundern, schließlich ist der Krawallsender nicht für Nachhaltigkeit und Verantwortungsgefühl berühmt. Eingerahmt von einer Chartshow und einer Dokusoap übers Fremdgehen zeigte der "Big Brother"-Kanal, dass Aufklärung manchmal nicht ohne geplante Skandale zu betreiben ist.

Geflügel-Essen in Teufelsküche

Der Kölner Sender nannte dann auch die Show martialisch "Jamies Hühnerhölle", in England lief sie unter dem etwas weniger rabiaten Originaltitel "Jamie's Fowl Dinners" – also eher "Geflügel-Essen" als "Teufelsküche".

Der Ablauf: Jamie Oliver hat ein paar Dutzend argloser Gäste zum gediegenen Menü geladen und erst bei der Begrüßung mit der zentralen Frage konfrontiert, ob ihnen wohl der Appetit vergeht "wenn Sie erfahren, woher Ihr Essen stammt".

Den meisten verging er dann tatsächlich, denn der Maître präsentierte weit vorm ersten Gang Bilder aus Legebatterien und Schlachtfabriken, von lebenden Tierleichen, turbogemästeten Frankensteinhühnchen, kalter Industrielogik und ließ die Besucher unter süßen Küken auf den Tischen jene männlichen selektieren, die er im Anschluss unter Kohlendioxidbegasung ersticken würde.

Es war ein echtes Erlebnis, die Kiefer der Zuschauer herunterklappen zu sehen bei jeder weiteren industriellen Erzeugungsperversität. "Meinen Sie, das ist hier noch Landwirtschaft?", fragte der strubbelig-nette Jamie Oliver im Blaumann einen Käfighalter und erntet die achselzuckende Antwort: Nein, das sei Produktion.

Zurück im Studio, nun eleganter mit Anzug und Krawatte, erklärte Oliver den hungrigen Gästen in Erwartung des Sterne-Dinners, dass ihre eiweißhaltigen Mahlzeiten gewöhnlich zu 80 Prozent aus dem stammen, was die Tierschutzorganisation Peta hierzulande mal mit Bildern aus Konzentrationslagern verdeutlichte. Auch dies galt damals - verglichen mit dem Gegenstand ihrer Kritik - als weitaus größerer Skandal.

Ein vergastes Küken bekommt echte Relevanz

Die Funktion des Skandals, sagt der Medienforscher Lothar Mikos, ist eben auch die Aufrechterhaltung eines moralischen Grundkonsens, der sich ökologischer Nachhaltigkeit bislang erst dort öffnet, wo sie uns nicht allzu weh tut.

Davon abgesehen, dass in den Reklamepausen für all jene Produkte von Waschmitteln über Süßigkeiten bis hin zu Discountmärkten geworben wurde, die ebenfalls am Ende quälend langer Ketten tierischer Ausbeutung stehen, hat RTL II dem Skandal hier also in die richtige Spur geholfen. Und hat das etymologische "Ärgernis" des Skandals einiger live getöteter Hühner mit sinnvollen Ergänzungen des englischen Originals in konstruktive Empörung umgeleitet: Mit vielen Statistiken über deutsches Konsumverhalten als Untertitel zu "Jamies Hühnerhölle". Und durch ein "Welt der Wunder"-Spezial zum Thema im Anschluss.

Das ist in einer Fernsehlandschaft, die ähnlich aufrüttelnde Dokumentarformate wie "Feed the World" aus Österreich oder "Darwins Alptraum" über die desaströsen Folgen europäischen Fischbedarfs für Afrika gern ins Spätprogramm von 3sat verbannt, schon eine Menge wert.

Wo uns Dieter Bohlens Sprüche, Heidi Klums Magersuchtmodels oder Eva Hermans Mutterkreuzeskapaden als Skandale verkauft werden, kriegt ein vergastes Küken echte Relevanz.

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