S.P.O.N. - Der Kritiker Die Fesseln drücken

Szene aus dem RTL-Format "Wild Girls": Neokoloniale Busenwunder
Foto: RTLWas soll das Fernsehen sein? Diese Frage muss man mal wieder ganz grundsätzlich stellen. Es geht nicht um die Qualität von einzelnen Sendungen, um Sinn und Unsinn und den himmelschreienden Schrott, der so oft gesendet wird. Es geht um das System Fernsehen, es geht darum, welche kulturelle, gesellschaftliche, mediale Funktion das Fernsehen hat, welche Welt es uns zeigt und zu was für Menschen es uns macht.
Sind wir Heloten, Triebtäter, Untertanen? Sind wir alle Busenwunder im Busch? Sind wir alle Polizisten im Dauerdienst? Genießen wir die Selbsterniedrigung, die eine Stunde Fernsehen fast immer mit sich bringt? Und ist diese Selbstverachtung dann noch ein postironischer Zustand? Oder schon eine soziale Deformation, die langsam auch politische Konsequenzen hat?
Wir leben, hat der US-amerikanische Schauspieler Kevin Spacey gerade gesagt, im "goldenen Zeitalter des Fernsehens" - und er hat natürlich recht, das Fernsehen ist das perfekte Erzählmedium für unsere Zeit. Es kann komplizierte gesellschaftliche Zusammenhänge in Geschichten und Charaktere auflösen. Es kann eine analytische Tiefe herstellen, die im Internetzeitalter immer wichtiger wird. Es kann eine Genauigkeit erreichen, die kein Kinofilm je ermöglicht, weil die Zeit im Grunde unbegrenzt ist, nicht 90 oder 120 Minuten, sondern 1000, 2000, 3000 Minuten: Das ist das Prinzip der Serie, wie sie die amerikanischen Sender perfektioniert haben.

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Und wer je eine Folge von "Homeland" oder "House of Cards" gesehen hat, der Politikserie, in der Kevin Spacey brilliert, der fühlt sich wie ein Gefangener in Platons Höhle. Er sieht die Schatten und Schimären dort draußen, und sein Unglück besteht darin, dass er die andere Seite gesehen hat, dass er draußen war aus der Höhle, wo die Wirklichkeit in all ihrer wüsten Schönheit regiert. Nun merkt er erst, der Zuschauer, wie sehr die Fesseln drücken.
Über US-amerikanische Serien ist schon viel gesagt worden; erstaunlich ist nur, wie lange es dauert, bis die Botschaft bei den deutschen Sendern ankommt. Sie tun immer noch so, als sei der Zuschauer eine Art Befehlsempfänger, als sei das Programm ein Kommandoplan, der in Fünf-Jahres-Zyklen besteht, als sei die digitale Revolution nicht vor allem eine Auflösung der hierarchischen Verhältnisse, wenn es um Inhalte geht: "Wir haben die Lektion gelernt, die die Musikindustrie nicht gelernt hat", sagte Spacey im Interview mit dem "Guardian", "gib den Leuten, was sie wollen, wann sie wollen, wie sie es wollen und zu einem vernünftigen Preis, und sie werden dafür lieber zahlen, als es zu stehlen."

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Das ist eine ganz einfache Umkehrung der Verhältnisse, wie sie im deutschen Fernsehen herrschen (mehr oder weniger pauschal, es gibt gewisse Unterschiede zwischen den öffentlich-rechtlichen und den privaten Sendern, graduell, würde ich sagen. In der Art und Weise, wie sie einen selbstbewussten Umgang verweigern in der Frage, was Qualität ist, sind sie sich aber mehr als ähnlich): Im deutschen Fernsehen wird ja immer noch mit so archaischen Instrumenten wie Marktforschung und Quote eruiert, was das Volk angeblich will.
Und das Resultat wird dann auf alle möglichen Sendeplätze des einen, zeitlich linear strukturierten Programms geschüttet, als sei es das analoge Jahr 1981 - als könne man nicht im digitalen Jahr 2013 beliebig viele Kanäle bespielen und der Zuschauer dann selbst entscheiden. Einen meinetwegen für hirnverbrannte Hedonisten, die sich die Brüste der weißen Frau in all ihren neokolonialen Anstrengungen anschauen wollen ("Reality Queens of Safari"), einen für die Freizeitmillionäre, die ihre Nachmittage mit Kochshows vergondeln wollen, aber vielleicht auch einen oder zwei, bei denen man merkt, dass die Macher nicht dauernd gezwungen werden, unter den eigenen intellektuellen Ansprüchen zu arbeiten.
Dazu müsste man aber ein paar Gefäße zerbrechen, ein paar Strukturen zerschlagen. Das wird nicht lustig und auch nicht leicht. Es reicht nicht, wenn etwa das ZDF ein paar Redakteure weniger hat und damit auch weniger Millionen mehr fürs Programm und weniger für Altersrückstellungen einplanen kann. Es geht schon um einen grundsätzlichen Wandel, kleinere Teams, mehr Freiheiten, mehr Mut, weniger Apparat, mehr Macht von unten, weniger Macht von oben.
Es geht um Respekt vor den Machern, den Schreibern, den Regisseuren und Schauspielern.
Es geht um Respekt vor den Zuschauern.
Es geht um eine digitale Fernsehrevolution, nicht um das Fernsehen zu zerstören, sondern um es zu retten.
Sonst gibt es irgendwann eben wirklich einen Tahrir-Moment auf dem Lerchenberg oder ein Stuttgart 21 der Haushaltsabgabe-Heloten.

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Die Frage nach Qualität ist eine Frage nach Repräsentanz und damit eine Frage nach der Legitimität des Systems.