S.P.O.N. - Der Kritiker Heuchelei plus Populismus

Die SPD ruft im Fall Edathy nach schärferen Gesetzen und setzt damit beim so traurigen Thema Kinderpornografie und Kindesmissbrauch genau das falsche Signal. Denn es wäre sehr viel nützlicher, in Aufklärung und Prävention zu investieren, statt in archaische Rituale der Ausgrenzung zurückzufallen.

Der Pädophile ist der Teufel unserer Tage. Er hat keine Rechte mehr, er hat keine Würde mehr, es reicht der Verdacht, um ihn zu erledigen: Der Pädophile ist der Feind, auf den sich alle einigen können.

Er wird ausgestoßen aus der bürgerlichen Gesellschaft, ausgestoßen aus der Partei, die ihm doch Heimat und Halt sein sollte - und es ist schwer nachvollziehbar, wie die SPD es mit ihrem Selbstbild verbindet, dass sie jemanden, der am Boden liegt, auch noch tritt.

Wo aber bleiben Gedanken wie Therapie, Hilfe, Resozialisation, eine andere Art, mit gesellschaftlichen und individuellen Problemen und Missständen umzugehen, als Überwachen und Strafen?

Da wird ein Mensch geopfert, gegen den bisher nur ein Anfangsverdacht vorliegt - das war die Botschaft, die Sigmar Gabriel dabei hatte, als er Anfang der Woche vor die Presse trat: Es war nicht sozialdemokratisch, weil es ohne jedes Mitgefühl war für die Nöte und Schwächen eines Menschen.

Es war die nackte Politik: Wir tun, was wir tun, um zu tun, was wir tun. Wenn man freundlich ist, nennt man das Utilitarismus. Man könnte auch sagen: Die SPD hat gezeigt, dass sie bereit ist, für die Macht Werte zu opfern.

Denn wie soll eine Politik gelingen, die Offenheit und Toleranz zum Ziel hat - wenn eine Partei mit einem emanzipatorischen Weltbild zurückfällt in Rituale der Ausgrenzung, wenn sie Stigmatisierung an die Stelle von Verstehen setzt, wenn sie damit ein Klima schafft der Angst, des Misstrauens und des Verdachts?

In guter staatsopportunistischer Tradition

Das war der eigentliche Skandal der vergangenen Woche: Die SPD hat der Politik ihre ethische Grundlage entzogen. Sie hat Moral eingesetzt wie eine Waffe, indem sie das Privateste zum Politischen machte - und wenn "Anstand" ein Argument in einer Auseinandersetzung wird, sollte man immer misstrauisch werden.

Denn was genau heißt es, dass Hans-Peter Friedrich "menschlich höchst anständig" gehandelt hat - im Gegensatz wohl zu Sebastian Edathy: Friedrich hat, wenn sich die "Winkeladvokaten" und "Rechtsverdreher", wie er es nannte, nicht täuschen, einen Rechtsbruch begangen, Edathy nach bisherigem Kenntnisstand nicht.

Das heißt erst einmal, dass die SPD die Prinzipien des Rechtsstaats sehr eigenwillig und egoistisch interpretiert, vom Geheimnisverrat über den extrem kurzen Dienstweg zum BKA bis zur Umdrehung und Aushebelung der Unschuldsvermutung - das ist die politische Ebene, das ist der juristische Skandal.

Das heißt aber vor allem, und das ist die gesellschaftliche Ebene und der folgenreichere Skandal, dass die SPD zwar in guter staatsopportunistischer Tradition nach schärferen Gesetzen ruft, obwohl es sehr viel nützlicher wäre, in Aufklärung und Prävention zu investieren - und damit beim so traurigen Thema Kinderpornografie und Kindesmissbrauch genau das falsche Signal setzt.

Denn Populismus plus Aktionismus plus Moralisieren plus Vorverurteilung plus rechtsstaatliches Achselzucken plus Härte und Heuchelei machen es fast unmöglich, mit dem Problem und der Pein der Pädophilen offen und tolerant umzugehen - und letztlich die Kinder zu schützen.

Politik ohne gesellschaftliche Visionen

"Opferschutz ist Täterschutz", hat Julia von Weiler von der Kinderschutzorganisation "Innocence in Danger" bei "Maybrit Illner" den Politikern ins Gesicht gesagt - und damit das Vorgehen besonders der SPD als das entlarvt, was es ist: verantwortungslos.

Und so ist die Krise der vergangenen Woche tatsächlich weniger eine Staatskrise. Die Phalanx der Großen Koalition hat sich ja rasch wieder geschlossen. Es ist vielmehr die Krise einer Politik, die ohne gesellschaftliche Visionen und Maßstäbe agiert.

Wenn Politik mehr sein soll als Machterhalt, dann gibt es Momente und Gelegenheiten, das zu zeigen: Der Fall Edathy war so ein Moment. Sigmar Gabriel und Thomas Oppermann haben offenbart, dass sie alles tun würden, um sich selbst, ihre Position, ihre Partei zu retten.

"Ich bin mit mir selbst im Reinen", sagte Oppermann bei "Maybrit Illner". Das ist schon nicht mehr moralischer Dünkel. Das ist das Vokabular von Leuten, die auf dem Marktplatz stehen und anderen Leuten Haarwuchsmittel verkaufen.

Er sei "entsetzt" und "fassungslos" über Sebastian Edathy, sagte Sigmar Gabriel, der seit Oktober 2013 von dem Verdacht wusste. Warum er damals nicht im Stillen aktiv wurde und bis zum Februar 2014 damit wartete, seinen Ekel dann sehr öffentlich vorzuführen, sagte er nicht.

Es kann der Demokratie schaden, wenn man mit zu viel Verachtung auf die Politik schaut. Die Politik muss sich das Vertrauen aber erst einmal verdienen.

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Foto: SPIEGEL ONLINE
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