Krisenfall Berliner Volksbühne Mit Jugendlichkeit vollgepumpt

Die Jugend soll's richten: Mit seiner Inszenierung von Erich Kästners "Emil und die Detektive" will Volksbühnen-Intendant Frank Castorf sein krisengeschütteltes Haus sanieren. Schade nur, dass sein einst so vitales Theaterkonzept jetzt schal und abgestanden wirkt.
Von Christine Wahl

"Berlin wird ihm sicher gefallen, das ist was für Kinder", plärrt die Bäckermeisterin Wirth (Ewa Mostowiec) mit der drolligen Unbedarftheit der Provinzlerin aus dem Waschbecken heraus, in dem ihr Frau Tischbein (Luise Berndt) ruppig den Kopf einseift. Die finanzprekäre Neustädter Friseurin mit den weißen Stretchjeans zu Castorf-obligatorischen High Heels ist gerade im Begriff, ihren Sohn Emil in den Hauptstadt-Zug zur Großmutter zu setzen.

Dass die Bäckerskundin mit ihrer Berlin-Romantik so herzallerliebst danebenliegt, könnte durchaus daran liegen, dass sie Franz Biberkopf nicht kennt: Jenen labilen Ex-Transportarbeiter aus Alfred Döblins Roman "Berlin Alexanderplatz", der - frisch aus dem Knast entlassen – die Metropole mit ihren Nuttenwinkeln, Unterwelt-Kriminellen und von Straßenbahn zu Straßenbahn hastenden Zeitgenossen als echtes Pandämonium erlebt, das all seine Resozialisierungsvorsätze kurzerhand zur Strecke bringt. Biberkopf scheitert zur gleichen Zeit an Berlin, zu der Emil Tischbein – im Zug von einem zwielichtigen Mitreisenden um Mamas sauer verdiente 140 Mark erleichtert – den Dieb mit Hilfe einer pfiffigen Hauptstadt-Kindergang überführt, die einen Musterkurs in punkto Demokratie und Nächstenliebe absolviert zu haben scheint. Erich Kästners Kinderbuchbestseller "Emil und die Detektive" erschien 1929; im selben Jahr wie Döblins legendärer Großstadtroman.

Im Gegensatz zur Bäckermeisterin kennt sich Frank Castorf, der Intendant der Berliner Volksbühne, mit selbigem bestens aus: Er hat "Berlin Alexanderplatz" vor sechs Jahren inszeniert und dabei einen Abend auf die Bretter gewuchtet, an dem man alles sehen konnte, was die Berliner Volksbühne bis vor gar nicht allzu langer Zeit zum Trend setzenden Theater mindestens des Landes machte: Tolle Schauspieler, kluges und dabei höchst sinnliches Diskurstheater, scheinbar unerschöpfliche Energie und ein Spaß am Miteinanderspielen, der seinesgleichen sucht.

Nölen über die "deutsche Arschigkeit"

Jetzt hat Castorf "Berlin Alexanderplatz" wieder in den Spielplan aufgenommen. Muss er auch, wenn er das Haus füllen will: Die Volksbühne steckt tief in der Krise, prägende Dramaturgen haben sich reihenweise verabschiedet, die einst theaterrevolutionären Mittel sind zur hohlen Form erstarrt – und von den Schauspielern, die sie zum Niederknien beherrschten und gestalteten, ist keine Handvoll fest am Haus verblieben.

Castorf nölt in Interviews über die "deutsche Arschigkeit", schwärmt von theatralen Frischzellenkuren mit Schauspielanfängern in Brasilien (an deren Erfolg die Volksbühnen-Gastspiele dann regelmäßig gewaltige Zweifel aufkommen lassen) und muss sich tatsächlich dringend eine Krisentherapie überlegen. Schließlich hat er an der Volksbühne noch ein par Jahre vor sich: Ex-Kultursenator Thomas Flierl hatte Castorfs Vertrag kurz vor Ende seiner Amtszeit bis 2010 verlängert – mit Option bis 2013.

Nun soll es also - nach einem kläglich gescheiterten Therapieversuch aus diversen Kurzopern im letzten Monat – mit "Emil und die Detektive" ein Ausflug ins Kinder- und Jugendtheater richten. Zur Premiere kam zuerst die Fassung für fortgeschrittene Teenager ab siebzehn; einen Tag später soll eine jugendfreie Version ab neun folgen. Gespielt wird in Bert Neumanns tollem Szenario für "Berlin Alexanderplatz": Die Drehbühne gibt wechselweise zeitenübergreifende Bretterverschläge, Mülltonnen-Dreckecken mit hohem Plastiksackaufkommen und einen Containerflachbau mit Neonleuchten-Imbiss inklusive einarmiger Banditen und benachbartem Hotel frei – all die Schauplätze, an denen sonst Biberkopf und Co. ihre düsteren Geschäfte abwickeln.

"Jewalt is keene Lösung"

Und mehr noch: Für den Fortgeschrittenen-Kursus hat Castorf nicht nur die Bühne benutzt, sondern auch harte Motive und Texte aus "Berlin Alexanderplatz" gegen Kästners naiv-erbauliche Kinderwelt geschnitten, wo der reiche Professorensohn die Schlechterverdienenden ob ihrer vom schnöden Mammon unverdorbenen Familienwärme beneidet. Milan Peschel spielt den Eisenbahndieb quasi als Biberkopf-Wiedergänger. Nicht der eingleisig Böse greift hier skrupellos in Emils Anoraktasche, sondern der schwache Kleinkriminelle, dem es selbst ständig an den dreckigen Kragen geht: Eine interessante Perspektive, die die gutmenschelnde Kästnersche Schwarzweißmalerei wohltuend auflöst.

Nur: Beim verheißungsvollen theoretischen Ansatz ist es dann leider auch geblieben. In der Praxis versuchen die verbliebenen Volksbühnen-Veteranen Milan Peschel und Volker Spengler redlich, Castorfs alte Theatermittel zu reaktivieren, die nur noch schal und abgestanden wirken – weil tatsächlich jegliche Energie aus ihnen gewichen ist. Da wird in Unterhemden herumgeballert und -genölt, aus der Rolle gefallen, in die Protagonisten umkreisende Kameras hineinmonologisiert und scharfe Munition aus Alditüten zutage gefördert.

Michael Schweighöfer gibt die gewaltbereite Knallchargen-Großmutter Tischbein mit Vollbart, Nylonkittelschürze und bei jedem Schritt herunterrutschenden fleischfarbenen Strumpfhosen als Running Gag. Den einst tollen Alt-Schauspielern merkt man dabei die Mühsal an, die schlaffe alte Hülle noch irgendwie zu füllen. Die Neuzugänge hingegen nerven nurmehr als Nachahmungsvollstrecker und –vollstreckerinnen, die jede Doppelbödigkeit, Widerständigkeit und Diskursivität, die die Volksbühne einst auszeichnete, schmerzlich vermissen lassen.

Was die Erwachsenen nicht bringen, sollen offenbar die Nachgeborenen schultern: Castorf hat Emil und die Kindergang altersgerecht besetzt. Und natürlich ist es niedlich und drollig, wenn neun- bis dreizehnjährige Kinder sich in Anarcho-Posen und Dialogen wie "Jewalt is keene Lösung" – "Det würd ick nich unbedingt sagen" üben. Auch, wenn man sie akustisch nicht immer versteht. Doch hat man den Eindruck, es sei Castorf weniger darum gegangen, mit Kindern für Kinder zu arbeiten, als vielmehr darum, seine leer gelaufenen Mittel mit unverbrauchter Jugendlichkeit vollzupumpen. Das funktioniert aber garantiert nicht als Krisenmanagement.

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