Krisenforscher Kepplinger "Alle starren auf den Tod"
SPIEGEL ONLINE: Es scheint, als breche die große Schweinegrippe-Seuche vorerst doch nicht aus - obwohl die Berichterstattung bisweilen den gegenteiligen Eindruck erweckte. Stichwort Panikmache: Haben Sie sich über die Medien in den letzten Tagen geärgert?
Kepplinger: Allerdings. Besonders das Fernsehen hat auf eine Weise berichtet, die ich bisher für unmöglich gehalten habe. Eine Ausgabe der "Tagesthemen" ist mir besonders negativ aufgefallen - nur Dramatisierung. Das reichte von der Stimmführung der Sprecher - grabestiefes Tremolo - bis zur Dramaturgie. Der Anteil der Informationen stand in keinem Verhältnis zur emotionalen Intensität. Ich finde diese Bereitschaft, ein Angstszenario aufzubauen, sehr befremdlich.
SPIEGEL ONLINE: Ist Panik nur schlecht? Sie führt ja auch zu Vorsicht - und die kann bei Seuchengefahr helfen.
Kepplinger: Das wird oft behauptet, und das kann man generell nicht bestreiten. Andererseits ist Panikmache teuer: Die BSE-Krise mit dem Zusammenbruch des Fleischmarktes hat in Deutschland Kosten von über einer Milliarde Euro verursacht, die Sars-Krise hat die Lufthansa allein durch den Buchungsausfall im Asienverkehr Millionen gekostet.
SPIEGEL ONLINE: Den Vorwurf der Panikmache hören die Medien derzeit auch oft in Bezug auf die Wirtschaftskrise.
Kepplinger: In der Berichterstattung über die Schweinegrippe und die Rezession gibt es durchaus Gemeinsamkeiten.
SPIEGEL ONLINE: Und worin bestehen die?
Kepplinger: Journalisten beobachten permanent, was andere Journalisten berichten - und reagieren entsprechend. Die Online-Medien haben diese Kollegenbeobachtung dramatisch beschleunigt. So entfaltet sich eine ungeheure Eigendynamik, die die Berichterstattung selbst dann zu neuen Höhepunkten treibt, wenn objektiv gar nichts passiert. Das Phänomen ist hinlänglich dokumentiert. Nach Erdbeben kommt es zu Wellen von Erdbebenmeldungen, obwohl die Erde nicht plötzlich häufiger erzittert als zuvor.
SPIEGEL ONLINE: Was liegt dieser Medienmechanik zugrunde?
Kepplinger: Ein Risiko - wie etwa die Grippe-Pandemie - besteht immer aus zwei Elementen: Aus der Schwere des potentiellen Schadens und aus der Wahrscheinlichkeit, mit der dieser Schaden eintritt. Medien konzentrieren sich extrem auf die Schwere des potentiellen Schadens.
SPIEGEL ONLINE: Und ignorieren die Eintrittswahrscheinlichkeit?
Kepplinger: Genau. Bei der Schweinegrippe wurden viele Fragen weitgehend ausgeblendet. Endet die Krankheit mit dem Tod, oder verläuft sie möglicherweise doch harmlos? Infizieren sich wirklich alle Leute, die mit Erkrankten in Kontakt gekommen sind? Alle starren aber lieber auf den Tod. Dieses Medienmuster wiederholt sich in Deutschland seit Jahrzehnten.
SPIEGEL ONLINE: Nennen Sie ein Beispiel.
Kepplinger: Der Brand bei dem Chemie-Giganten Sandoz 1986. Damals titelte der "Stern": "Tschernobyl am Rhein". Das war reiner Zynismus. Oder kann man tote Ukrainer mit toten Fischen vergleichen?
SPIEGEL ONLINE: Fälle wie Sandoz sind allerdings sehr selten.
Kepplinger: Aber stilbildend. Schauen Sie sich heute mal einen Wetterbericht an. Da brechen ja so oft Stürme aus, da kann man froh sein, dass sich überhaupt noch einer aus dem Haus traut.
SPIEGEL ONLINE: Sie übertreiben.
Kepplinger: Vielleicht ein bisschen. Aber Sie können darauf wetten, dass regionale Wetterberichte zu 60 oder 70 Prozent falsch sind.
SPIEGEL ONLINE: Vielleicht sind einfach die Meteorologen schlecht?
Kepplinger: Nein, die Darstellung ist schlecht, weil sie immer an die äußerste Grenze des Wahrheitsfähigen geht. Zuschauern in Rheinland-Pfalz wird zum Beispiel immer erzählt, wie kalt es auf dem Erbeskopf wird, das ist ein kleiner Berg im Hunsrück. Da finden Sie kaum einen Menschen, da will auch niemand hin. Und trotzdem kriegen wir gesagt, wie kalt es da ist. Warum? Weil es der kälteste Punkt ist. Es geht allein um die Dramatisierung: höchster Wert, niedrigster Wert. Seit etwa zehn Jahren werden Wetterberichte deswegen immer nutzloser.
SPIEGEL ONLINE: Nach dieser Logik sind die bösen Medien auch an der Schweine-Panik schuld.
Kepplinger: Nicht unbedingt. Ob im Fall der Schweinegrippe die Medien die alleinige Schuld haben, bezweifle ich sogar sehr. Von Anfang wurde hier ja der Begriff Pandemie verwendet.
SPIEGEL ONLINE: Worauf wollen Sie hinaus?
Kepplinger: Seit einigen Jahren tendieren Behörden und Verwaltungseinrichtungen, die ihre Existenzberechtigung nachweisen wollen, dazu, sich bestimmte Situationen zunutze zu machen. Nehmen wir als Beispiel das Intergovernmental Panel for Climate Change (IPCC). Je dramatischer eine Meldung ist, die das IPCC über den Klimawandel platziert, desto größer die Bedeutung des Gremiums.
SPIEGEL ONLINE: Und das soll jetzt bei der Schweinegrippe ähnlich sein?
Kepplinger: Zumindest liegt der Verdacht nahe, dass die WHO ihre eigene Bedeutsamkeit dokumentieren will. Wohlgemerkt: Ich halte sowohl den Klimawandel für real als auch die Bedrohung durch eine Grippe-Pandemie, will also keinesfalls behaupten, dass alles herbeigelogen ist. Dennoch kommen solche Organisationen in die Versuchung, eine Lage dramatischer darzustellen, als sie wirklich ist. Sie können ja darauf setzen, dass die Medien weltweit darauf anspringen. Deshalb muss man damit rechnen, dass diese Organisationen nicht nur nüchtern informieren, sondern an die Grenze des Vertretbaren gehen.
SPIEGEL ONLINE: Abgesehen von der medialen Präsenz - welche Vorteile haben sie dadurch?
Kepplinger: Da spielen - vorsichtig gesagt - ganz handfeste Interessen eine Rolle. Solche Organisationen brauchen viel Geld. Und das bekommen sie um so leichter, je anerkannter sie als Krisenvorsorgeeinrichtung sind. Das dürfte bei der WHO nicht anders sein. Da hängen tausende Existenzen dran. Wir haben Klimaforscher in einer Studie befragt, ob die Medienberichterstattung über den Klimawandel einen Einfluss auf die Zuweisung von Forschungsgeldern hat. Mehr als zwei Drittel bejahen das. Übrigens: In der Regel sind das Überzeugungstäter, Leute mit einer Mission.
SPIEGEL ONLINE: Klima, Rezession, jetzt die Schweinegrippe - wir reden von globalen Krisen. Inwieweit spielt das für die Berichterstattung und Wahrnehmung eine Rolle?
Kepplinger: Wir haben nicht nur mehr Medien, sondern sie haben nahezu unbegrenzten Zugang zu jedem Vorfall weltweit. Wenn in China eine Schweinegrippe-Verdachtsfall auftritt, weiß das in zehn Minuten die westliche Welt. Die Menge der verfügbaren Daten wird also immer größer - und jedes von den Medien neu verfütterte Informationshäppchen bekräftigt bereits bestehende Ängste.
SPIEGEL ONLINE: Besonders große Angst haben die Deutschen aber nicht. Laut einer Umfrage fürchten sie sich kaum vor der Schweinegrippe, auch die Konsumlaune ist weiterhin gut.
Kepplinger: Stimmt, die Deutschen reagieren auf die Rezession verblüffend gelassen. Und warum? Die Kommunikationsforschung lehrt uns: Menschen stützen ihr Urteil in Wirtschaftsfragen auf Alltagserfahrungen - und kaum auf Medienberichte. Bestes Beispiel: die Euro-Einführung. Als der Kaffee damals teurer wurde, fluchten die Leute auf den Teuro. Da kamen zwar die Ökonomen und sagten: Unser statistischer Warenkorb ist gar nicht teurer geworden. Der enthält aber viele Produkte, die man selten kauft. Wenn die Wirtschaftskrise erst einmal auf den Arbeitsmarkt durchschlägt, wird es massive Reaktionen geben.
SPIEGEL ONLINE: Und bei der Schweinegrippe?
Kepplinger: Die ist einfach zu weit weg. Wenn es hierzulande einen Todesfall gäbe, hätten wir sofort höchste Erregungsgrade - garantiert.
SPIEGEL ONLINE: Jetzt betreiben Sie Panikmache.
Kepplinger: Ich hoffe nicht.
Das Interview führte Thorsten Dörting