
Künstlerin Teresa Margolles Dreck und Blut des Drogenkriegs
Seit dem 17. Juli 2010 kann die Hochschullehrerin Alpha Escobedo nicht mehr in ihrer Heimat leben. An diesem Tag stürmten zwei Männer in den Laden ihres Mannes, schossen ihn und einen Freund nieder. Was genau vorfiel und warum es passierte, weiß Alpha Escobedo nicht. Schließlich ist die Polizei nirgendwo so überfordert wie im nordmexikanischen Ciudad Juárez - in der Stadt mit der weltweit höchsten Kriminalitätsrate.
Alpha Escobedo ist weggegangen aus der vom Drogenkrieg zerrissenen Region. Jetzt sitzt sie in Kassel, im Museum Fridericianum und stickt im Auftrag der Künstlerin Teresa Margolles mit goldenem Faden einen spanischen Spruch auf ein blutiges Tuch.
Im Fridericianum eröffnet an diesem Wochenende Margolles' zweite große deutsche Museumsausstellung. Schlagartig bekannt geworden war die Mexikanerin hierzulande, als sie bei einer Gruppenschau 2002 in den Berlin eine spektakuläre Arbeit zeigte: eine Wand, bestrichen mit menschlichem Fett, das bei Schönheitsoperationen abgesaugt worden war. Darauf folgte, 2004 im Museum Moderner Kunst in Frankfurt am Main, eine Einzelschau, in der die Besucher von Kaskaden von Seifenblasen begrüßt wurden. Schillernde Vergänglichkeitssymbole - aus einer Flüssigkeit, mit der Leichen gewaschen worden waren.
Der Gesellschaft die Leichen ihrer Opfer auf den Tisch legen
Den reduzierten Formen der minimalistischen Kunst treibt Margolles durch die Wahl ihrer Materialien ihren formalästhetischen Gleichmut aus. Sie hat Kunst und Kommunikationswissenschaften studiert, aber sie ist auch diplomierte Gerichtsmedizinerin. Ihr Thema sind die Toten, deren Ende durch Armut, Gewalt oder Verbrechen bestimmt wurde. Ihr Anliegen ist deren Fortleben im Gedächtnis, im Gewissen der Welt.
Ihr Künstlerkollege Santiago Sierra hat 2004 im Katalog der Frankfurter Schau den Kern ihrer Arbeit so beschrieben: "Margolles' Werk ist eine Daueranklage der Mörder durch das schlagkräftige Mittel, der Gesellschaft die Leichen ihrer Opfer auf den Tisch zu legen" - und das in Mexiko, wo das Ausmaß der Zerrüttung des Landes durch Gewalt und Bandenkriege nicht immer eingestanden wird. Und doch ist die internationale Anerkennung für das Werk der Künstlerin so zwingend, dass sie im letzten Jahr den mexikanischen Pavillon bei der Venedig-Biennale bespielen durfte.
Jetzt, am Vortag der Eröffnung ihrer Kasseler Schau, die sie Roberto Urrea Caraveo, dem toten Mann von Alpha Escobedo, gewidmet hat, sitzt Margolles neben der Stickerin. Nein, sagt sie, sie glaube nicht, dass sie mit ihrer Kunst viel erreichen könne. Ihre Arbeiten schützten niemanden. Nicht sie selbst, nicht Alpha Escobedo und keinen, der in der immer weiter nach Süden vordringenden Terrorzone der Drogenkriminalität leben müsse. Aber sie entstehen zu lassen, sei mehr als nichts tun. Mehr als schweigen.
Stählerne Gebeine einer sterbenden Stadt
Zu sagen, was die Politik in Mexiko und darüber hinaus tun könne, sei nicht ihre Sache. Sie setzte ohnehin eher auf den in der Zivilgesellschaft sich formierenden Widerstand. Er verstärke sich. Und doch: "Die Situation wird immer noch schlimmer."
Margolles ist 1963 im mexikanischen Culiacán geboren. Schon sie selbst sei mit den Narcos, den Drogendealern, aufgewachsen. "Heute sind sie überall." Wer nicht zu ihnen gehört, leide unter ihnen, habe in seinem Umfeld Opfer zu beklagen. Und viele profitierten auch zwangsläufig von der wuchernden Ökonomie im Umkreis ihrer Geschäfte: "Und wenn es auch nur so ist, dass sich die Dealer in deinem Imbiss ihre Tacos kaufen."
Draußen an der Fassade des Fridericianums - diesem lichten, im Geist der Aufklärung errichteten Museumsbau von 1779 - hängen 40 Leinwände und verdunkeln 40 Fenster. Diese Bilder wurden durch die Erde, den Dreck und das Blut von Tatorten im Norden Mexikos gezogen. Entstanden ist eine Fassade, von der feine Spuren von Blut tropfen könnten, wenn Regen- oder Tauwasser sie aus den Leinwänden löst.
Auch innen ist das helle Schauhaus in einen - so Museumsleiter Rein Wolfs - "monumentalen Andachtsraum für den Tod" verwandelt. Margolles ließ in die Wand eines der Ausstellungsräume eine horizontale, nur millimeterbreite, aber mehrere Meter lange Linie schlitzen und mit Körperfett auffüllen - ein Verweis auf die vielen Leichenfunde, bei denen die offenen Schnittstellen brutal abgetrennter Körperteile das Innere bloßlegen. Sie hat eine Wand wiederaufbauen lassen, die sie in Ciudad Juárez abgetragen hat; vor dieser Außenmauer eines Schulgeländes waren vier Jugendliche förmlich exekutiert worden. Armierungseisen von den umfangreichen Abrissarbeiten im alten Zentrum der Stadt ließ die Künstlerin zu einem Kubus zusammenpressen - ein scheinbar puristisches Kunstwerk, in dem die stählerne Gebeine einer sterbenden Stadt stecken.
Die Stickarbeit aber, deren Ausführung Margolles ganz bewusst Alpha Escobedo übertragen hatte, wird in der nächsten Ausstellung der Künstlerin in einem Zürcher Kunstraum zu sehen sein. Es erinnert an die Tücher, bestickt mit Appellen wie "Hört endlich auf, ihr Hurensöhne", die in den vom Drogenkrieg zersetzten Städten vom Widerstand der betroffenen Bevölkerung künden.
Teresa Margolles: Frontera. Kunsthalle Fridericianum, 4. Dezember 2010 bis 20. Februar 2011. Gruppenschau "Die Nase des Michelangelo", ab 10. Dezember in der Marktgasse 4 und 6 im Zürcher Niederdorf.