Kulturhauptstadt Ruhrgebiet Schief im Westen

Wir sind Kulturhauptstadt! Doch was soll das?, fragt sich der Dortmunder Olaf Sundermeyer. Dem Pütt fehlt es an Identität, Selbstbewusstsein und kreativen Köpfen. Und gegen Proporzdenken, Sparwahn und eine veraltete Malocher-Mentalität dürfte selbst das Spektakel Ruhr.2010 nicht ankommen.

Natürlich hat Herbert Grönemeyer das erste Wort. Wer sonst? Zum Auftakt der Kulturhauptstadt Ruhr.2010 in Essen hat der eigens für diesen Anlass komponierte Song "Komm zur Ruhr" Premiere. Das kennt man von der Fußballweltmeisterschaft vor vier Jahren - als Grönemeyer mit "Zeit, dass sich was dreht" die Hymne des Sommermärchens lieferte. Und schließlich verkaufen die Veranstalter die Ruhr.2010 ja als Deutschlands größtes Ereignis seit der WM. Doch vielleicht sollte Grönemeyer am Wochenende einfach seinen Gassenhauer "Was soll das?" zum Besten geben - und dann die Fragen beantworten, die das Großereignis aufwirft. Denn bislang wird es von der breiten Öffentlichkeit als sehr abstrakt wahrgenommen.

Vergeben wird der Titel Kulturhauptstadt ja an Städte, die eigentlich nicht das Zeug zur Metropole haben, die im Schatten der Hauptstädte stehen. So wie vergangenes Jahr Linz und eben nicht Wien den Titel trug, 1990 Glasgow und nicht London - und vor elf Jahren als letzter deutscher Titelträger Weimar statt Berlin. Die Kulturhauptstadt ist eine Kultursubvention für ein Europa der Regionen. So will man Entwicklungen wie auf anderen Kontinenten vorbeugen, wo die Megacitys der Provinz die Kultur vorenthalten.

Für das wirtschaftlich geplagte Ruhrgebiet ist die Kulturhauptstadt eine große Chance: Man hofft auf Millionen von Besuchern, um sie davon zu überzeugen, dass die Luft über der Ruhr längst wieder blau ist. Dass der Pott mit 53 Städten und Gemeinden keine industrielle No-go-Area mit 5,3 Millionen Einwohnern ist. Es fließt viel Geld, auch aus Brüssel. Vor allem die Kreativwirtschaft soll auf die Beine kommen: Design, Musik, das Verlagswesen, bildende Kunst und Architektur sollen den lange erhofften Strukturwandel schaffen.

Fotostrecke

Ruhr.2010-Auftakt: Grönemeyer, Engel und ein Tatort

Foto: DDP

Darum kümmert sich der einstige Viva-Gründer Dieter Gorny - zunächst als einer der künstlerischen Leiter der Ruhr.2010. Mit einer Firma, die langfristig mit Kreativität Geld machen soll, bezieht er demnächst Quartier in Dortmund, wo auf einer Brauereibrache eines von ruhrgebietsweit sieben Kreativvierteln entsteht. 40 Millionen Euro werden hier investiert, damit Medienkunst und Musikwirtschaft Arbeit in die Stadt bringen. "Denn die Abwanderung junger, gut ausgebildeter Leute, mit denen auch die Kreativität schwindet, ist eines unserer größten Probleme", sagt Gorny.

Der Pott galt lange als kulturfeindlich

Erfolg kann dabei niemand garantieren, Gorny nicht, die risikobereite Stadt nicht. Aber zumindest einige im Pott haben verstanden, dass dies im Wettbewerb der Städte die letzte Chance ist. Gorny orientiert sich an Metropolen, die dem Ruhrgebiet um Jahre voraus sind. So gesehen hat man hier nichts zu verlieren. Aber zunächst muss sich die Mentalität wandeln. "Vielfach kapieren die maßgeblichen Leute nicht, dass Kreativität auch Ökonomie ist", sagt Gorny. "Sie nehmen es nicht ernst, sondern halten es für einen Witz." Die Region, in der sich Arbeit stets über die Hände definierte, galt lange Zeit als kulturfeindlich. Auch deshalb fehlen jetzt die kreativen Köpfe, die auch dann noch bleiben, wenn das fette Fest vorbei ist, und die Projektmittel ausgezahlt wurden.

Kulturschaffende sorgen sich daher, dass der Effekt Ruhr.2010 verpufft. Mitten im Ankündigungsgetöse des Spektakels droht einigen Theatern das Aus - weil die Städte überschuldet sind. Aus der Landeshauptstadt Düsseldorf kam jüngst der Vorschlag für einen Theaterverbund - nachdem Wuppertal bereits angekündigt hatte, sein Theater - mit dem ja die weltberühmte Pina Bausch verbandelt war - zu opfern. Über die Bühnen von Hagen, Essen und Oberhausen wird diskutiert.

Bleibt die Hoffnung auf ein lokales Mäzenatentum. Jüngst ermöglichte die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung mit 55 Millionen Euro den imposanten Neubau des Folkwang Museums in Essen. Und in Duisburg engagiert sich die Mercator Stiftung an der Universität, weil öffentliches Geld beim Profilaufbau fehlt. Aber nur wenige der gebeutelten Kommunen haben derart potente Förderer. Das Dortmunder Kreativquartier bekommt immerhin für 400.000 Euro einen Kinosaal von dem Essener Energieriesen RWE spendiert.

An politisch-symbolischen Zuwendungen besteht dagegen derzeit kein Mangel. Denn im Mai sind Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen; die gut drei Millionen Stimmen von der Ruhr sind entscheidend. Die Wahl gilt als Feuerprobe der Bundesregierung - ohne NRW hätte Angela Merkel keine schwarz-gelbe Mehrheit mehr im Bundesrat. Auch deshalb hat die Kanzlerin "die Kulturhauptstadt" in ihre Neujahrsansprache eingebaut. Die Veranstaltungen im Ruhrgebiet seien neben der Fußball-WM ein Ereignis, auf das sich alle jetzt schon freuen könnten, sagte Merkel. Doch der Funke ist noch nicht übergesprungen, nicht im Pott, außerhalb erst recht nicht.

Das passt zu einer Gegend, der es an Erfolgen mangelt. Für viele ist sie der größte deutsche Wendeverlierer. Etwa für den einstigen nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Wolfgang Clement aus Bochum. Mit seinem Ausscheiden aus der aktiven Politik hat der Pott den letzten großen Regierungslobbyisten verloren. Als die Mauer fiel, rutschte der Pott wegen des industriellen Wandels gerade in seine größte Krise. Aber Deutschland blickte nach Osten. "Beschissen" habe man das Ruhrgebiet jahrelang, behauptet Clement gar - mit Blick auf die marode Verkehrsinfrastruktur.

Proporzdenken und Gießkannenprinzip

"Die Leute im Ruhrgebiet sind immer benachteiligt worden - bis heute", schimpft er. Darin sieht Clement die Ursache für einen Minderwertigkeitskomplex. Im Zeitalter von Kohle und Stahl habe man die Gegend einfach als Reservoir für Rohstoffe und Arbeiter betrachtet. Zu lange hätten sich die Ruhris selbst auf dieses Malocher-Image reduziert.

Und nun? Sucht man nach einer neuen Identität. Konstanten dabei sind die Fußballkultur, die Weltniveau hat - und die Migrantenkultur, die von Beginn an zum Ruhrgebiet gehörte: Die ersten kamen aus Polen, nach dem Krieg kamen Gastarbeiter aus Jugoslawien, der Türkei, Nordafrika, und Südeuropa. Inzwischen weiß man, dass nur deren zahlreiche Kinder die demografische Lücke zu schließen vermögen, die hier stärker klafft als in anderen Städteregionen. Das Programm der Ruhr.2010 soll auch ihnen Anerkennung zollen.

Aber: Es ist aus Proporzdenken entstanden. Denn aus der ursprünglichen Kulturhauptstadt Essen wurde schnell die Ruhr.2010. Plötzlich sollten alle profitieren. Selbst die längst abgegriffene Idee des Kölner Bananensprayers Thomas Baumgärtel musste ins Programm - als 30-Meter-Stahlkonstruktion auf dem Gestell eines stillgelegten Hochofens in Dortmund-Hörde. Die Stadt hat dafür kein Geld, jetzt bettelt man um private Paten für das 250.000-Euro-Teil, um im Bananenlängenvergleich mit den Nachbarstädten mithalten zu können. Das Ruhrgebiet leidet unter diesem Kirchturmdenken.

Dessen Verteidiger kommen meistens aus der Malocher-Generation, die nie gelernt hat, selbstbewusst aufzutreten. Die Ruhr.2010 soll jetzt eine gemeinsame Identität forcieren. Ihre Macher sehen das Ruhrgebiet als werdende Metropole. Zugezogene begreifen den Pott ohnehin als ein großes Ganzes. Und bei jungen Leuten ändert sich der Blick auf die Heimat seit einigen Jahren - vielleicht die größere Hoffnung als ein gigantisches Marketing-Spektakel.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren