
Kunstmuseen: 100 Millionen handbemalte Sonnenblumenkerne
Kunstmuseen London Calling
Frieze, die Londoner Kunstmesse mit 173 Galerien aus 29 Ländern, ist vorbei. Und sie war mehr als eine Messe. Weil sie zum Beispiel die kürzlich veröffentlichte Analyse der US-Bank Merrill Lynch bestätigt hat, dass die weltweit ständig wachsende Zahl der Millionäre gern in Kunst investiert und für diese "Leidenschaftsinvestition" auch den weitesten Weg nicht scheut. Außerdem war die Frieze Mittelpunkt und Anstoß für eine Londoner Kunst-Event-Woche mit einem vorbildlichen Joint Venture von Messe, Auktionshäusern - und Ausstellungen in Museen und Galerien, die weiter laufen und unbedingt eine Reise wert sind.
Zum Beispiel die Ausstellung in der Tate Modern . Dort begeistern sich die Besucher für die Arbeit des allgegenwärtigen Ai Weiwei in der Turbinen Halle (bis 2. Mai 2011). Die hat der Chinese mit mehr als 100 Millionen Sonnenblumenkernen aus Porzellan zugeschüttet, die in dem chinesischen Dorf Jingdezhen zwei Jahre lang von 1600 Arbeitern geformt und angemalt wurden. Allerdings durften die Besucher nur zwei Tage lang in den "Sunflower Seeds" herumwaten und sich die Taschen mit den kleinen Skulpturen vollstopfen. Dann wurde das Betreten der Arbeit wegen des "gesundheitsgefährdenden Staubs" verboten.
Seitdem kann man nur noch von der Brücke aus auf die Installation schauen, zum Beispiel, wenn man in der Schlange zur großen -Ausstellung wartet. Seit 50 Jahren ist es die erste Schau des französischen Post-Impressionisten in London, und dementsprechend groß ist der Andrang auf die Gemälde und Zeichnungen mit berühmten Szenen aus Tahiti oder von wunderschönen bretonischen Landschaften.
Ein knallroter Pavillon von Jean Nouvel
Das Gegenprogramm zur klassischen Museums-Ausstellung gibt es natürlich auch in London. Die Serpentine Gallery hat sich vor ihre Tür in Kensington Garden von Jean Nouvel einen neuen, knallroten Pavillon bauen lassen - wieder nur für ein Jahr. Und der derzeitig beliebteste Londoner Künstler Anish Kapoor hat dazu in den Park eine Serie seiner spiegelnden, die Welt auf den Kopf stellenden Stahlskulpturen aufgestellt. "Turning the World Upside Down" nennt er die Ausstellung, die bis zum 13. März 2011 dauert. Drinnen in der Serpentine zeigt die junge Schwedin Klara Lidén ihre erste Einzelschau in England (bis 7. November). Ihre Filme und Installationen sind das Gegenprogramm zur schönen, eleganten und modernen Kunst- und Architekturwelt vor der Tür.
Lidéns Idee, mit Chaos und Ungehorsam gesellschaftliche Konventionen zu brechen, ist nicht nur ein wunderbares Versprechen; es geht für jedermann sichtbar auf, allein, wenn man die Installation aller Gegenstände aus ihrem Zimmer sieht und die darin aufgebauten zwei alten, hässlichen Kühlschränke mit den makellos roten und lackglänzenden Exemplaren in Nouvels Pavillon vergleicht.
Lackglänzend - eigentlich ist das ein schönes Adjektiv für die Frieze, die Motor für alle diese Ausstellungen war. Die Warteschlange vor dem Frieze-Zelt im Regent Park war lang am Eröffnungstag, der Champagner floss reichlich, und geradezu euphorisch wurde es, als Jay Joplins Galerie White Cube den Verkauf von Fisch-Vitrinen-Werk mit dem Titel "The True Artist Helps the World by Revealing Mystic Truths" für 3,5 Millionen Pfund meldete. Es war der höchste Preis, der für ein Hirst-Werk nach jenem historischen Tag im September 2008 gezahlt worden ist, an dem die Investmentbank Lehman Brothers kollabierte und an dem eine Hirst-Auktion bei Sotheby's in London insgesamt 181,5 Millionen Pfund einbrachte.
Aber Joplin hat noch ganz andere Gründe zum Jubeln. In seiner zweiten Galerie, einem schlichten, schönen Neubau der Architekten MRJ Rundell & Associate nahe der Duke Street, zeigt er bis zum 13. November die wohl beste Galerie-Schau in ganz London. "The Clock" heißt die großartige Video-Arbeit des US-Amerikaners Christian Marclay, der in Zürich aufwuchs und seit den späten Siebzigern mit Collagen aus Sound, Musik und Film arbeitet. Für "The Clock" hat Marclay Tausende kleiner Filmszenen zu einem 24 Stunden langen Video zusammengeschnitten, in jeder dieser Szenen geht es um Zeit - manchmal schaut der Schauspieler auf eine Uhr, manchmal geht es um eine zeitliche Verabredung, um einen Tagesablauf, ums Zuspätkommen oder einfach um eine ganz bestimme Tageszeit. Marclay synchronisiert die Filmschnipsel mit der realen Zeit, in der die Zuschauer sein Video anschauen.
Am Tag der Eröffnung lief Marclays 24-Stunden-Film durchgehend 24 Stunden lang - beginnend um sechs morgens. Auf die Uhr brauchte man nicht zu schauen, die Zeit war ständig auf der Leinwand präsent. Jetzt ist das Video allerdings nur noch zu den normalen Öffnungszeiten zu sehen, aber es wird mit Sicherheit eine ebenso große Zukunft in Museen und auf Festivals haben, wie Warhols "Sleep" oder sein "Empire State Building"-Film. Der Kunstmarkt floriert also wieder, auch in hohen Preisregionen.
Was eine London-Reise überraschenderweise nicht lohnt, das ist die " Turner Prize 10"-Ausstellung (bis 3.1.2011) der vier Nominierten Dexter Dalwood, Angela de la Cruz, Susan Philipsz und The Otolith Group in der Tate Britain. Die sieht so seriös und langweilig aus, als habe sich die Jury mutlos auf einen Konsens geeinigt. Die Wetten, welcher der vier Nominierten wohl am 6. Dezember den 25.000 Pfund-Preis bekommen wird, laufen im Gegensatz zu früheren Jahren, als Damien Hirsts mit eingelegtem Hai, Chris Ofili mit Elefantendung oder Tracey Emin mit Lotter-Bett für Skandale sorgen, übrigens sehr schlecht.