Kurras und die 68er Der Spion, der aus der Akte kam
Zwei unerschöpfliche Reservoire stehen der deutschen Geschichtsbesessenheit vulgo "Vergangenheitsbewältigung" seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zur Verfügung: Hitler und die Revolte von 1968. Die zwölfjährige Nazi-Herrschaft mit Holocaust und Weltkrieg und die Saga vom revolutionären Aufstand einer Generation.
So oft die 68er schon totgesagt und mit allem rhetorischen Aufwand beerdigt worden sind - plötzlich und immer wieder, zuletzt im vergangenen Jahr zum 40-jährigen "Jubiläum", scheinen sie springlebendig und höchst gegenwärtig.
Sicheres Zeichen für die Unzerstörbarkeit des Mythos: Längst ergraute Männer im Rentenalter erklären im Fernsehen noch einmal, wie es wirklich war.
So oder so - die Erde war rot. Oder sollte es werden.
Wenn in diese windungsreich zerklüftete Erzählung von Abenteuer und Untergang, von Traum und Wirklichkeit dann noch ein Blitz einschlägt, der direkt aus dem vermodert-luziferischen Dunkelreich namens "DDR" kommt und "Stasi" heißt, ist kein Halten mehr in Sachen Sensation und Spekulation.
Als vor zwei Wochen bekannt wurde, dass der Westberliner Polizeiobermeister Karl-Heinz Kurras, der am Abend des 2. Juni 1967 den Studenten Benno Ohnesorg aus nächster Nähe erschossen hatte, ein Stasi-Agent war, zudem noch Mitglied der "Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands" (SED) - da herrschte für eine Millisekunde einfach nur Sprachlosigkeit.
"Moment mal", dachten viele, das war doch der "Faschobulle", das "Bullenschwein", das den wehrlosen Ohnesorg von hinten kaltblütig ermordet hat.
Richtig. Kurras - das war für die demonstrierenden Studenten im Juni 1967 (und nicht nur für sie) das Sinnbild der Verhältnisse: der westdeutsche "Polizeistaat" in Aktion. Das Fanal für die Radikalisierung der Revolte.
Jetzt also wissen wir: Am Abzug der Westberliner Dienstpistole Kaliber 7,65 befand sich der Finger eines hochrangigen und langjährigen Stasi-Spions, eines Beauftragten von Ulbricht, Mielke & Co.
Nun wird wieder heftig in den Feuilletons diskutiert
Muss die Geschichte also umgeschrieben werden? So fragten beinah alle, als die Schrecksekunde des ungläubigen Staunens vorüber war.
Kämpften die 68er gegen ein falsches Feindbild?
Saß ihr Gegner in Wahrheit in Ost-Berlin?
Wäre alles anders gekommen, hätten Dutschke & Co. damals gewusst, dass Kurras kein Fascho, sondern DDR-Parteikommunist war, ein geheimer Vorkämpfer des Sozialismus?
Haben sie sich ins Bockshorn jagen lassen?
Beruht der Mythos 68 also auf einer absurden Geschichtslüge, einer Undercover-Aktion von VEB Horch & Guck?
So wird nun wieder heftig diskutiert in den Feuilletons der Republik, und, wen wundert's, Alt-68er wieder an vorderster Front. Es geht immer wieder, wie im vergangenen Jahr, um Interpretationshoheit und Deutungsmacht der jüngsten deutschen Geschichte.
Die einen werfen den anderen das "Herunterspielen" beziehungsweise die Dramatisierung des Einflusses der Stasi auf das Geschehen vor. Einige alte Recken zeigen sich völlig unbeeindruckt, andere spielen mit Verschwörungsphantasien. Hier und da verpasst man einem alten 68er-Genossen, zugleich Konkurrent auf dem Buchmarkt, noch rasch einen Tritt ans Schienbein.
Keine Frage: Die Stasi-Enthüllung wirft neues Licht auf die Ereignisse. Aber, bitte schön, welches genau?
Will jemand ernsthaft behaupten, die Stasi habe die Studentenbewegung initiiert, gelenkt, radikalisiert und dann mit Hilfe ihrer Unterwanderung der RAF ins terroristische Abseits geschossen?
Nachdem 2008 durch Götz Alys Polemik mit dem bezeichnenden Titel "Unser Kampf" die 68er erstmals mit einem Nazi-Stigma belegt wurden, also doch irgendwie "Hitlers Kinder" seien, mag es nun in den Augen des einen oder anderen nahe liegen, die Farbpalette zu komplettieren: die 68er gleichsam als Nazi-Stasi-Cuvée, Ausgeburt des Schreckens, ein teuflischer Molotowcocktail aus dem giftig brodelnden Hinterhof des "Weltbürgerkriegs" (Ernst Nolte) im 20. Jahrhundert. "Rotlackierte Faschisten" eben.
Hundertprozentig hinter Kurras
Nun muss man derartige Schmähungen gar nicht bemühen, um die ideologischen und gewalttätigen Verirrungen der sich radikalisierenden Revolte zu brandmarken. Ob RAF oder maoistische Parteisekten - längst haben viele intellektuelle Köpfe der Studentenbewegung dezidierte Selbstkritik geübt, in Wort und Tat.
In Zeiten der ständigen Eilmeldungen und Pseudonachrichten ist es allerdings ganz gut, die Dinge mal ein paar Tage ruhen zu lassen. Mit ein klein wenig Abstand kommt man auf andere Gedanken. Manchmal sogar auf Banalitäten, die in der spekulativen Aufregung - was kommt als nächstes raus? - allzu leicht untergehen.
Man erinnert sich zum Beispiel an die Art, wie der Westberliner Senat, die Polizei, nicht zu vergessen die in Westberlin dominierende Springer-Presse auf die Tat reagierten.
In einem Satz: Sie stellten sich allesamt und hundertprozentig hinter Kurras. Er war ihr Mann, so wie sie ihn kannten. Er hatte offensichtlich im Sinne seiner Vorgesetzten gehandelt, wenn auch in einer bedauerlichen Überreaktion beziehungsweise "Putativnotwehr". Kein Wunder, dass sämtliche Unregelmäßigkeiten wie das Verschwinden seines Magazins von der Westberliner Polizeiführung gedeckt wurden. Am Ende sprachen zwei Instanzen Kurras frei. Bis heute ist Ohnesorgs Tod ungesühnt.
So wird im Lichte unseres heutigen Wissens der Skandal der Westberliner Politik eigentlich noch größer: Denn natürlich hätte man Kurras fallen lassen und verurteilt, wenn damals schon seine Stasi-Tätigkeit aufgedeckt worden wäre. Seine Kollegen hätten in diesem Fall gewiss nicht geschwiegen oder irreführende Angaben über den Tathergang gemacht.
"Durch den Ofen jagen, das ganze Pack!"
Der Tathergang selbst liefert weiteres Material für den offensichtlichen Umstand, dass für den gesamten Ablauf des 2. Juni 1967 die Westberliner Polizei und der Senat unter dem Sozialdemokraten Heinrich Albertz verantwortlich war - und nicht die Stasi.
Oder waren etwa auch jene Polizisten aus dem Osten gesteuert, die auf Benno Ohnesorg einprügelten, auch als er schon am Boden lag? Eine Augenzeugin berichtete:
"Von hinten tauchte plötzlich ein uniformierter Beamter aus dem Dunkeln auf und schlug dem Mann im roten Hemd von hinten auf den Kopf. Der Getroffene sank langsam in sich zusammen, und nun kamen die beiden Polizisten, die erst rechts und links des VW gestanden hatten, hinzu, und zu dritt schlugen sie auf ihn ein. Ich habe zwischen all diesen Geschehnissen einen Knall gehört, den ich aber nicht als Schuss deutete. Ich lief zu dem am Boden liegenden Mann und bückte mich links von ihm zu ihm herunter. Als ich zu den Beamten hochblickte, sah ich, dass sie immer noch ihre Schlagstöcke in der Hand hatten, und bat sie leise: 'Nicht schlagen, bitte holen Sie die Ambulanz!'"
"Blutige Krawalle: 1 Toter!" titelte "Bild" am 3. Juni. Im Kommentar hieß es: "Sie müssen Blut sehen. Hier hören der Spaß und der Kompromiss und die demokratische Toleranz auf. Wir haben etwas gegen SA-Methoden."
Wohlgemerkt: "Bild" meinte die Studenten, nicht Kurras & Co. Die Opfer wurden zu Tätern gemacht.
Es muss der Phantasie überlassen bleiben, wie der Kommentar mit dem Wissen von heute ausgesehen hätte. Doch schon die Formulierung zeigt: Diese Spekulation bringt nichts.
Die teils pogromartige Stimmung in Westberlin veranschaulichen in schlagender Weise auch unzählige Briefe an den AStA der Freien Universität und den SDS nach Ohnesorgs Tod, in denen die Bürger ihren Gefühlen - und dem Zeitgeist - freien Lauf ließen. "Mir graust, wenn ich daran denke, dass dieser Pöbel später mal die Führungsschicht in unserem Vaterlande stellen soll", schrieb einer. "Hier fehlt ein Innenminister wie Hermann Göring, der mit den Ganoven aus dem Scheunenviertel (bis 1940 von Juden bewohnt, d. Red.) spielend fertig wurde."
Ein anderer: "Ungeziefer muss man mit Benzin begießen und anzünden! Tod der roten Studentenpest!"
Noch einer: "Nur ein Student erschossen, das ist viel zu wenig. Durch den Ofen jagen, das ganze Pack!"
Bis in die SPD hinein reichte der Hass braver Bürger. Der Abgeordnete Theis riet, die "Unbelehrbaren" aus der "Gemeinschaft" möglichst "auszugliedern". Oder an jene "zurückzugeben", von denen "sie offenbar Aufträge" haben, also von "drüben".
Er meinte damit gewiss nicht Kurras. Wenn das keine Ironie der Geschichte ist.
Den Lauf der Geschichte hat die Stasi nur minimal verändert
So zeigt sich: Es war eben nicht allein der Schuss, der die Republik veränderte. Es war die Polizeibrutalität dieses Tages insgesamt, die offizielle Feinderklärung an die Protestgeneration.
Diese wiederum steigerte sich in ihre eigenen Freund-Feind-Projektionen hinein und nahm pars pro toto - als ob der blutige 2. Juni in Westberlin die ganze gesellschaftliche Wirklichkeit der Bundesrepublik repräsentiert hätte.
Am Ende aber ist es stets die unübersehbare Vielzahl von Interessen, Motiven, Stimmungen und Gefühlen, die den historischen Augenblick bestimmen und das, was aus ihm wird. Zu ihm gehörten damals auch jene privaten Worte des linken DDR-Dramatikers Heiner Müller, der dem Schriftsteller Peter Schneider vorhielt, er und seine rebellierenden 68er-Genossen seien doch nichts weiter als die "hedonistische Speerspitze des Kapitalismus".
Geschichte wird gemacht, wenn sie passiert.
Und wie sie doch passiert!
Mit all ihren hehren Motiven, ihren seligen Hoffnungen, Sehnsüchten und Utopien. Aber auch mit ihrem Irrsinn, mit dem Wahnsinn der Weltverbesserer, mit ihrem Fanatismus und ihrer ideologischen Blindheit für das Kleine im Großen, für das "krumme Holz" (Isaiah Berlin), aus dem der Mensch gemacht ist.
Der Fall Kurras dokumentiert eindringlich, wie aktiv die Stasi versuchte, Einfluss im Westen zu gewinnen. Doch den Lauf der Geschichte hat sie trotz aller Bemühungen, soziale Protestbewegungen in der demokratischen Bundesrepublik für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, nur minimal verändert.
Die große Mehrheit der Rebellierenden hat stur darauf bestanden, ihre Fehler und Irrtümer selbst und auf eigene Rechnung zu begehen. Dafür waren es auch ihre ureigenen Träume und Hoffnungen, die sie antrieben.
Der größte Erfolg der Stasi aber war eine gigantische und historisch äußerst verdienstvolle Abrissaktion in eigener Sache: der Untergang der DDR. Trotz flächendeckender Bespitzelung war ihr verborgen geblieben, dass die Bevölkerung die Geschichte einfach in die eigenen Hände, besser: Füße genommen hatte.