"Lindenstraße"-Schöpfer Geißendörfer "Ich hätte mir Harald Schmidt großzügiger gewünscht"

Am 30. Januar wird die 1000. Folge der "Lindenstraße" ausgestrahlt, im Dezember feiert die Dauer-Serie 20. Geburtstag. SPIEGEL ONLINE sprach mit dem "Lindenstraße"-Schöpfer Hans W. Geißendörfer über die Zusammenarbeit mit der ARD, die neue Sehnsucht der Zuschauer nach Qualität und den Geschäftssinn von Harald Schmidt.

SPIEGEL ONLINE:

Herr Geißendörfer, 1000 Folgen und bald 20 Jahre "Lindenstraße" - was überwiegt da: Stolz oder Ermüdung?

Geißendörfer: Von Ermüdung keine Spur! Ich mache "Lindenstraße" nach wie vor wahnsinnig gerne, und diese Freude ist das beste Rezept gegen Müdigkeit. Von Stolz möchte ich gar nicht sprechen. Ich bin glücklich, dass die ARD bis 2008 verlängert hat und wir weitermachen dürfen. Diese Chance möchte ich nutzen, um an jedem Sonntag wenigstens einen vernünftigen Satz im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu hinterlassen.

SPIEGEL ONLINE: Sie hatten zahlreiche Krisen zu bestehen - Streit mit dem Ensemble über Inhalte zum Beispiel und sinkende Quoten. Wollten Sie mal alles hinwerfen?

Geißendörfer: Nein, diese Gefahr bestand nie. Die Zeit, auf die Sie anspielen, das war 1999. Damals mussten wir einen Mitarbeiter entlassen, der teilweise mit Erfolg versucht hat, sein eigenes Werk - er war neun Jahre Herstellungsleiter bei uns - in den Dreck zu ziehen. Eine echte Inhaltskrise hat es nie gegeben. Trotzdem war das eine wichtige Phase, weil sie uns noch einmal gestärkt hat in dem Bewusstsein, dass es nichts gibt, wofür wir uns verteidigen müssten. Wir bleiben so, wie wir sind. Die Vertragsverlängerung gibt uns dabei Recht.

SPIEGEL ONLINE: Sie mussten sich allerdings mit einer finanziellen Nullrunde zufrieden geben. Ärgert es Sie, wenn die ARD andererseits für Sportrechte viel Geld ausgibt?

Geißendörfer: Es ärgert mich grundsätzlich überhaupt nicht, wofür die ARD ihr Geld ausgibt, immer vorausgesetzt, dass nicht andere Sparten darunter leiden müssen. Wenn also für den Sport enormes Geld ausgegeben wird, damit die Quote insgesamt besser aussieht, gleichzeitig aber andere Programme stiefmütterlich behandelt werden oder ganz verschwinden, dann allerdings ist mein Ärger sehr groß. Zwischen zehn und 15 Prozent werden bei den erzählenden Genres eingespart, beim Fernsehfilm und auch in der Film-Coproduktion. Das bedeutet aufs Jahr gerechnet, dass vielleicht zwei oder drei Stoffe weniger umgesetzt werden.

SPIEGEL ONLINE: Ärgern dürfte Sie auch die Summe, die man in Harald Schmidt investiert hat.

Geißendörfer: Harald Schmidt ist Harald Schmidt. Er hat einst bei der ARD angefangen, und ich hätte mir von Herzen gewünscht, dass er ein wenig großzügiger gewesen wäre. Er hätte sagen sollen "Passt auf Jungs, ich komme gerne zu euch zurück und ich mache das zu einem Preis, den ich mir leisten kann und den ihr euch leisten könnt". Was er tatsächlich herausgepokert hat, weist ihn als verdammt guten Geschäftsmann aus, aber nicht unbedingt als jemanden, der seinen Job über alles liebt. Dennoch habe ich das Gefühl, dass man mittlerweile bei der ARD begriffen hat, dass es ein Fehler war, die eigene Politik jahrelang nach der Quote und damit nach den Privatsendern auszurichten. Man besinnt sich auf das, was man kann: Qualität - in der Unterhaltung, in der Information und in der Dokumentation.

SPIEGEL ONLINE: Ein Beispiel für dieses Umdenken?

Geißendörfer: Edgar Reitz' "Heimat". Bei den Privaten wäre das undenkbar. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass der Trend bei den Öffentlich-Rechtlichen wieder zu mehr Qualität geht. Schon deshalb, weil es auch beim Zuschauer eine große Sehnsucht gibt nach klügeren, witzigeren, stilleren, ja besinnlicheren Formen der Unterhaltung. Natürlich wird es immer Trash geben, das ist okay. Aber man sieht diese Programme straucheln. Mit Qualitätsprogrammen passiert so etwas dagegen nicht.

SPIEGEL ONLINE: Sie sind angetreten mit dem Anspruch, "deutsche Realität aufzugreifen und zu reflektieren". Hat sich dieser Ansatz nicht überholt angesichts der Reality-TV-Formate, bei denen Menschen in Container gesteckt und Möchtegern-Stars im Dschungel gequält werden?

Geißendörfer: Die "Lindenstraße" ist oft missverstanden worden als eine Art Vorstufe zur Reality. Ich bin stolz, dass wir fiktiv sind. Wir spiegeln den Alltag nur und spielen auf ironische Weise mit der Realität, etwa wenn Else Kling in die Kneipe rennt, weil ihr Fernseher kaputtgegangen ist und sie dort auf dem Bildschirm gerade noch sehen kann, wie sie diese Kneipe betritt.

SPIEGEL ONLINE: Der TV-Moderator Roger Willemsen hat das Fernsehen als ein "heute weitgehend ironisches Medium" bezeichnet, das mehr zum Verschwinden als zur Erscheinung bringt. Teilen Sie diese Ansicht?

Geißendörfer: Das ist mir zu akademisch. Die Macher des Fernsehens sind so verschieden wie ihre Zuschauer. Manchen geht es um die Vermittlung von Inhalten, mache sind eitel, anderen geht es um Geld. Sie sind pragmatisch und sagen, wenn die ARD so blöd ist und mir acht Millionen bezahlt, dann nehme ich die auch. Die Konsequenz für mich als Konsument ist einfach, dass ich Fernsehen heute nur noch sehr selektiv nutze.

SPIEGEL ONLINE: Welche Formate kommen bei Ihnen in die engere Auswahl?

Geißendörfer: Sehr, sehr wenige, was auch daran liegt, dass ich in zwei Ländern, in Deutschland und in England, lebe. Vor dem Einschlafen zappe ich zum Beispiel in Deutschland kurz durch die Programme. Wenn ich überhaupt irgendwo hängen bleibe, dann bei einem Spielfilm.

SPIEGEL ONLINE: A propos Spielfilm: Hat die "Lindenstraße" nicht Ensemble-Mitgliedern wie Joachim Hermann Luger die Karriere als seriöse Darsteller verbaut?

Geißendörfer: Verbaut hat die "Lindenstraße", glaube ich, niemandem etwas. Hätte, wenn und aber zählen nicht. Wer weiß schon, wie sich die eine oder andere Karriere ohne die "Lindenstraße" entwickelt hätte. Tatsache ist, dass ein Schauspieler, der sehr lange in der "Lindenstraße" dabei ist, in der Öffentlichkeit ein hohes Ansehen genießt, bei Regisseuren, Produzenten und Kollegen aber eben "nur" als Seriendarsteller gilt. In diesem komischen Land wird nun einmal zwischen E und U unterschieden. Die Ernsthaftigkeit fängt erst beim Kino, beim Theater oder wenigstens bei einem "Tatort" an. Diese Arroganz ist Mist und lässt sich nicht rechtfertigen, vor allem gegenüber der "Lindenstraße" nicht, die bezüglich der technischen Ausstattung, aber auch inhaltlich oft nahe am Fernsehspiel ist.

SPIEGEL ONLINE: Die 1000. Folge wird 45 statt 30 Minuten dauern. Haben Sie je an einen Ableger für die große Kino-Leinwand gedacht?

Geißendörfer: Spin-Offs mit Figuren aus der "Lindenstraße" sind von Verleihern mehrfach angefragt worden, ich habe mich damit aber nie wirklich auseinander gesetzt. Ich vertrete in diesem Punkt eine klare Haltung: Die "Lindenstraße" ist originäres Fernsehen und gehört daher definitiv auch nur ins Fernsehen.

SPIEGEL ONLINE: Wie wird es weitergehen? Gibt es grundlegende Neuerungen?

Geißendörfer: Wir verfolgen keine grundlegend neuen Strategien. Dennoch wird es Änderungen geben, weil die Autoren stets wachsam sind und das Leben in unserer Republik genau beobachten. Die Auswirkung von politischen Entscheidungen auf den Alltag, etwa Hartz IV, muss auch für uns ein Thema sein. Diesem Prinzip haben wir in der Vergangenheit immer Rechnung getragen und werden das ganz bestimmt auch weiterhin tun. Sonst wäre die "Lindenstraße" nicht mehr die "Lindenstraße".

Das Interview führte Andreas Kötter

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