Sexualität in Marokko "Die Frau ist Eigentum"

Die Eltern der Journalistin Hasna El Maroudi erlebten Marokko noch als liberale Gesellschaft. Heute wird für Frauen selbst der Weg zum Bäcker zum Spießrutenlauf. Was ist passiert?
Marokkanerinnen in Rabat: "Benachteiligungen in jeder Hinsicht"

Marokkanerinnen in Rabat: "Benachteiligungen in jeder Hinsicht"

Foto: Adel Hana/ AP
Zur Person
Foto: Hasna El Maroudi

Hasna El Maroudi, Jahrgang 1985, ist eine niederländische Journalistin mit marokkanischen Wurzeln. Sie arbeitet als Redakteurin bei der Nachrichtenseite Joop.nl, schreibt außerdem als Kolumnistin für das feministische Magazin Opzij.

In meiner Facebook-Timeline tauchte vor kurzem ein Foto auf: eine Szene aus Marokkos Hauptstadt Rabat, aufgenommen irgendwann in den Siebzigern. Ein Mann und eine Frau gehen Hand in Hand die Straße entlang. Er im gut sitzenden Anzug, sie in einem kurzen bunten Kleid; sie flanieren auf der Straße, die jetzt die Avenue Mohammed V ist. Das Bild kam mir so bekannt vor, dass ich zweimal hinsehen musste, um sicher zu sein, dass es kein Foto aus einem der Alben meiner Eltern war.

Letzten Sommer habe ich die alten Bilder durchgeblättert. Es war, als ob ich eine Fantasiewelt betrat, in der meine Eltern eine besondere Rolle als marokkanische Über-Hipster hatten; im Gegensatz zu den Strenggläubigen, die sie jetzt sind.

Mein Vater war ein attraktiver Mann. Er trug eine Nerdbrille mit dickem Gestell, so schwarz wie sein mächtiger Schnurrbart. Als junger Mann arbeitete er in verschiedenen Kneipen oder, wie er das selber gepflegt nennt: Cabarets. Von den Cabarets erzählt er nur, wenn wir in Marokko sind und ihn die Erinnerungen an früher überfallen. Er kann dann wunderbar davon erzählen, wie es war, im französisch besetzten Marokko aufzuwachsen. Aber auch über die Befreiung und darüber, was für ein Gefühl es war, als Land endlich wieder Autonomie und komplette Verfügungsgewalt über das eigene Gebiet zu haben.

Die herrschende freie Moral unter der französischen Besatzung tut er oft ab als "Wir wussten es nicht besser"; allerdings verrät sein listiges Grinsen, dass er die Zeit doch auch genossen hat. Zu der freien Moral gehörte auch ein Aussehen, das davon, wie man im Westen herumlief, kaum zu unterscheiden war.

Als der Westen noch das Ideal war

Mein Vater war immer ein großer Freund von dreiteiligen Anzügen. "Gut und gepflegt aussehen ist wichtig, dann nimmt man dich ernst" ist einer seiner Wahlsprüche (den ich übrigens in meinen Zwanzigern geschickt nutzte, um meinen Vater davon zu überzeugen, dass ein Modedesign-Studium an der Kunstakademie durchaus sehr wichtig ist). Meine Mutter trug früher weder Kopftuch noch lange Röcke, sondern Schlaghosen und Blusen mit diesen großen spitzen Kragen. Als sie sich dem heiratsfähigen Alter von 16 Jahren näherte, standen die Männer Schlange. Aber meine Mutter lehnte resolut ab und mein Opa schickte die Interessenten gnadenlos wieder weg. Sie sollte selbst völlig frei entscheiden, wen sie heiratete und wann.

Was da in den Jahren zwischen der freien Moral und dem heutigen Konservatismus passiert ist, kann ich nicht völlig erklären. Aber ich habe so meine Theorien. Unter dem französischen Protektorat galt "der Westen" in Marokko noch als Ideal - mit der dazugehörigen "freien" Lebensweise, einschließlich halbwegs freier Sexualmoral und Alkoholgenuss. Schon bevor sich das Land von der französischen Besatzung befreite, brauchte man einen neuen gemeinsamen Nenner, um die Franzosen bekämpfen und als Einheit stark aus dem Kampf hervorgehen zu können.

Gierigen Händen entkommen

Und so hielt als gemeinsamer Nenner der arabische Nationalismus seinen Einzug, mit der dazugehörigen strengen islamischer Lehre. Wobei anzumerken ist, dass dieser Nationalismus längst nicht immer aus dem Volk kam, sondern in erster Linie von oben auferlegt wurde. König Mohammed V. und sein Sohn, der spätere König Hassan II., regierten und diktierten mit dem Koran in der einen Hand und dem Stock in der anderen.

Das Ergebnis ist ein Land, das gebückt geht unter dem Konservatismus und gleichzeitig mit den Verführungen des Westens ringt. Für Frauen bedeutet das Benachteiligung in jeglicher Hinsicht. Im Straßenbild dominieren Männer; die Frau, die sich "hineinwagt", muss auf der Hut sein.

Wenn ich in Marokko Urlaub mache, muss ich mich an den ersten Tagen immer wieder neu einleben. Mich gewöhnen an das laute Gezische, das ich höre, auch wenn ich nur eben Brot beim Laden um die Ecke holen will, kaum 50 Meter von meinem Elternhaus entfernt. Ich kenne marokkanisch-niederländische Frauen, die im Urlaub einen falschen Ehering tragen, um Männern zu entgehen, denen es problemlos gelingt, einen Shoppingtrip auf den Markt in einen Schnellkurs über sexuelle Nötigung zu verwandeln.

Die Frau ist in Marokko kein selbstständiges Wesen, sie ist Eigentum. Nur diejenige, die bereits unter die Gewalt eines anderen Mannes fällt, entkommt dem einigermaßen. Wie oft habe ich in Läden flüchten müssen, um gierigen Händen zu entkommen. Und dann muss man noch hoffen, dass der Ladenbesitzer kein schmieriger Kerl mit klebrigen Händen ist. Mir bricht noch der Angstschweiß aus, wenn ich daran denke, wie ich mich einmal mit einer blonden Freundin in den engen Gässchen von Marrakesch verirrte, weil wir vor dem x-ten Mistkerl das Weite gesucht hatten.

Auch in Marokko ist es nur ein kleiner Prozentsatz der Männer, der sich daran schuldig macht, Frauen auf verschiedenerlei Weise zu belästigen. Aber diese Männer haben freies Spiel. Genau wie nicht jeder Fußballfan ein Hooligan ist, ist nicht jeder Mann ein Sexualtäter. Aber wenn dagegen nicht eingeschritten wird, wird es ziemlich schwierig, zu unterscheiden.

Feminismus in Marokko: "Hass wird nicht durch noch mehr Hass gelöst"

Die Feministin Mona Eltahawy  erläutert in ihrem Buch "Für die sexuelle Revolution der Frauen in der islamischen Welt", was die Rettung für diese Länder sein kann. Sie schreibt unter anderem, dass sie durch das Trauma, wie Männer in Ägypten und Saudi-Arabien mit Frauen umgehen, zum Feminismus getrieben wurde. Feministin sein ist nahezu eine Notwendigkeit geworden, um in der arabischen Welt überleben zu können. Es muss sich etwas ändern, und nur Feministen können das bewirken.

In dem Kapitel "Warum sie uns hassen" schreibt Eltahawy, die in ihrer Untersuchung Länder von Marokko bis Saudi-Arabien betrachtet:

"Grundsätzlich gibt es nichts zu beschönigen. Wir arabischen Frauen leben in einer Kultur, die uns grundsätzlich feindlich gegenübersteht und die geprägt ist von der Verachtung der Männer. (…) Wir haben keine Freiheiten, weil sie uns hassen, (…). Der islamische Hass auf Frauen glüht in der gesamten Region - heute mehr denn je (…). Eine Untersuchung der VN im Jahre 2013 ergab, dass 99,3 Prozent der ägyptischen Frauen auf der Straße sexuell belästigt werden. Männer begrapschen und beleidigen uns, und doch gibt man uns die Schuld, weil wir zur falschen Zeit am falschen Ort waren und auch noch die falschen Kleider trugen (…). Familien erlegen ihren Töchtern eine Ausgangssperre auf, damit diese nicht überfallen oder vergewaltigt werden. Und den Männern sagt niemand, sie sollen uns nicht überfallen oder vergewaltigen? (…) Aus diesem Grunde prangere ich das giftige Gebräu aus Kultur und Religion an. Ob die Politik mit Religion oder militärischer Macht vermischt ist: Gemeinsamer Nenner ist die Unterdrückung der Frau."

Für Sexismus ist nicht Rassismus die Lösung

Es ist nicht das erste Mal, dass ich solche Vorfälle beschreibe, und auch nicht das erste Mal, dass ich über die erbärmliche Stellung der Frau in Marokko oder anderen arabischen oder arabisierten Ländern schreibe. Und ich bin keineswegs die Erste. Mona Eltahawy ging mir voran, aber auch Nawal El Saadawi und die letzten November verstorbene Fatima Mernissi stritten und streiten jahrein, jahraus für die Gleichberechtigung der Frau, überall, aber insbesondere in der islamischen Welt.

Die Emanzipation der Frau in der islamischen Welt ist ein empfindliches Thema, mit dem wir nicht leichtfertig umspringen dürfen. Nicht zuletzt, weil das Thema mit spielender Leichtigkeit durch die extreme Rechte gekapert wird als angebliche Untermauerung ihrer Auffassungen. Sie steht bereit, jeden in die eigenen Reihen einzugliedern, der behauptet, dass daran, wie Männer in der arabischen Welt mit Frauen umgehen, etwas verkehrt ist. Und darum halten viele Frauen eisern den Mund. So auch nach den Ereignissen in Köln am Silvesterabend. Dabei gilt aber: Hass wird nicht durch noch mehr Hass gelöst, Konservatismus ist nicht durch noch mehr Konservatismus zu lösen. Für Sexismus ist Rassismus nicht die Lösung. Wer wirkliche Veränderungen in der arabischen Welt will, muss Feministen Raum geben.

Aber nicht, ohne sich bei den unzähligen überwiegend syrischen Flüchtlingen zu entschuldigen, denen die Ereignisse in Köln nun angehängt werden. Die Flüchtlinge, die von allen aufs Kreuz gelegt werden. Einerseits vom Assad-Regime und dem dort kämpfenden IS, andererseits von den Sexualtätern und den rechten Ausländerfeinden, die jetzt in jedem mit einem syrischen Pass einen potenziellen Vergewaltiger oder Terroristen sehen.

Übersetzung: Christiane Zwerner

Der Gastbeitrag von Hasna El Maroudi erschien zuerst auf der niederländischen Plattform joop.nl. Er ist der vierte Teil einer Serie von SPIEGEL ONLINE, in der Perspektiven auf Islam und Sexualität beleuchtet werden.

Im ersten Teil sprach die Wissenschaftlerin und Publizistin Shereen El Feki darüber, welche Lebensumstände sexualisierte Gewalt begünstigen.

Im zweiten Teil argumentierte die Harvard-Professorin Leila Ahmed, dass Frauenrechte seit der Kolonialzeit für Unterdrückung instrumentalisiert werden.

Im dritten Teil analysierte die Autorin und Wissenschaftlerin Miral-al-Tahawy, wie der Frauenkörper immer wesentlicher Bestandteil politischer, sozialer und religiöser Konflikte in der arabischen Kultur war.

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