
Kunstaktion: Alte und neue Maueropfer
Aktion zum Mauerfalljubiläum Knackt die Festung Europa!
Die Toten sind weg. Jahrelang standen sie unbeachtet an der Spree, strahlend weiße Kreuze im Niemandsland der Erinnerung, direkt neben dem Reichstag mitten in Berlin, aber doch sehr weit weg und tief in der deutschen Geschichte.
Philipp Held etwa, gestorben wohl am 11. April 1962, erst am 22. April 1962 wurde er tot aus der Spree geborgen. Einer der Mauertoten, die gerade zum Jubiläum des Mauerfalls am 9. November ein paar Fragen an die Gegenwart stellen: Was bedeuten diese Toten? Was verlangen diese Toten?
Sie sind Mahnung, sie sind Auftrag, sie rühren an den moralischen Kern unserer Zeit - das ist die Antwort der Kunst auf diese Frage, die die Politik, so scheint es, gern vermeiden würde.
Denn was bedeutet das - der Mauerfall und seine Feier: Wenn eine neue Mauer Europa umgibt, wenn an den Zäunen, Sicherheitsanlagen, Barrikaden, mit denen der Kontinent sich vor den Flüchtlingen der Welt schützen will, wieder Menschen sterben und die Werte vernichtet werden, für die Europa, für die der Fall der Berliner Mauer eigentlich steht?
Aus dieser Frage, aus dieser Empörung heraus ist die spektakuläre Aktion entstanden, die beides zusammenbringen soll: Das deutsche Gedenken an die Mauer, das angesichts vieler halbgarer Veranstaltungen an Gedankenlosigkeit grenzt - und die Realität etwa des Flüchtlings-Hotspots Melilla, wo sich Nacht für Nacht Hunderte von Afrikanern voller Verzweiflung auf das Ungetüm aus Stacheldraht werfen, das zwischen ihnen und ihrer Hoffnung steht.
Weitere Mauertote verhindern
"Die humanistischen Werte Europas müssen heute an den EU-Außengrenzen verteidigt werden", sagt Philipp Ruch vom Zentrum für politische Schönheit, ein Kunst-Kollektiv, das die Rolle der Kunst selbstbewusst als "fünfte Gewalt im Staat" bezeichnet - was er meint: Auch diese Mauer muss weg!
"25 Jahre nach dem Fall der Mauer wird Europa militärisch abgeriegelt", sagt Ruchs Kollegin Cesy Leonard. "Während in Berlin Ballons in die Luft steigen und die üblichen nostalgischen Reden gehalten werden, bringt die deutsche Zivilgesellschaft in einem Akt politischer Schönheit die europäischen Außenmauern zu Fall."
Denn das ist der Plan: Die Kreuze der Mauertoten, die in Berlin abmontiert wurden, verschwunden, "geflüchtet", wie Ruch sagt - das ist nur der Anfang. Sie tauchen wieder auf, am Rand Europas, an den Sperranlagen in Bulgarien oder in Griechenland, in den Händen der Verzweifelten von Melilla, mögliche, wahrscheinliche zukünftige Tote, was wir, sagt Ruch, verhindern können. Verhindern müssen.
"Erster Europäischer Mauerfall"
Ruch und seine Kollegen haben die Kreuze dorthin gebracht, sie wollen Bilder schaffen gegen das Verdrängen, sie wollen aber auch Taten - deshalb starten sie an diesem Montag die Aktion für den "Ersten Europäischen Mauerfall", ein Crowdfunding für eine Bustour, die am Freitag, den 7. November in Berlin beginnt und am 9. November an einem geheimen Ort in Bulgarien endet mit dem Ziel, einen Teil der europäischen Festung zu knacken.
Auf der Webseite des Projekts sind schon mal die nötigen Ausrüstungsgegenstände zu sehen: Bolzenschneider, Metallsäge, Fernglas, eine Folie gegen die Wärmebildkameras der Sicherheitsbehörden - paramilitärisches Künstlertum gegen paramilitärische Politik.
Jeder Teilnehmer darf dann, falls es gelingt, ein Stück vom Zaun der Schande mitnehmen, der in Bulgarien erst ein paar Monate alt ist und, so heißt es im New Speak von Frontex und Co, dem "Containment" dient, also der Eindämmung. In Griechenland ist der Zaun schon ein paar Jahre alt und rostet und heißt, eher klassisch: "das Schild".
Während also an der Spree mit der schwülstigen Aktion "Lichtgrenze", bei der erleuchtete Heliumballons die Mauer symbolisieren sollen - Kosten: mehr als eine Million Euro -, das politische Fanal des Mauerfalls komplett entpolitisiert wird, lenkt das Zentrum für politische Schönheit die Aufmerksamkeit auf das, was die Lehre, die Botschaft, die Verpflichtung auch sein könnte von 25 Jahre Mauerfall.
"Gedenken wir nicht der Vergangenheit", sagt Philipp Ruch zu der Aktion, die das Festival Voicing Resistance des Gorki Theaters Berlin eröffnet, "gedenken wir der Gegenwart."
Die Berliner Polizei war schnell: Sie ermittelt schon wegen "besonders schwerem Diebstahl".