Medienzensur in Ungarn "Völkisches Denken hat gesiegt"

Mediengesetz-Gegner: "Kennen die Mechanismen, wie man sich auflehnt"
Foto: Balazs Mohai/ dpaSPIEGEL ONLINE: Frau Marsovszky, was ist aus Ihrer Sicht gefährlich an dem neuen ungarischen Mediengesetz, das die rechtskonservative Partei Fidesz unter Regierungschef Viktor Orbán zu Anfang des Jahres erlassen hat?
Magdalena Marsovszky: Das Gefährlichste ist, dass die Medienfreiheit massiv eingeschränkt wurde. Eine neue Nationale Medien- und Nachrichtenbehörde wurde geschaffen, geleitet von einer Fidesz-Parteifreundin, Annamaria Szalai. Sie kontrolliert die Internetportale, die Printmedien und die privaten Rundfunksender. Alle öffentlich-rechtlichen Medien müssen die Nachrichten von der ungarischen Nachrichtenagentur übernehmen. Einerseits wurde alles also sehr stark zentralisiert, andererseits wird alles von der Regierungspartei beherrscht - und oppositionelle Stimmen bekommen so gut wie keinen Raum. Die Rechtsbegriffe in sind sehr verschwommen. Deswegen nimmt man an, dass sich das Gesetz weniger gegen bestimmte Auswüchse von Rechtsaußen wenden wird, sondern gegen in den Augen der Regierung unliebsame Medien - wahrscheinlich liberale oder linke.
SPIEGEL ONLINE: Nun gibt es Stimmen, die sagen: Warten wir erstmal ab, wie das Gesetz tatsächlich angewendet wird ...
Marsovszky: Journalisten, mit denen ich gesprochen habe, sagen: Wir sitzen auf einem elektrischen Stuhl, der gerade nicht eingestöpselt ist, aber jede Sekunde angeschlossen werden kann. Man hat in Ungarn immer wieder die Erfahrung gemacht, dass die Fidesz und die Fidesz-nahen Medien viel weniger gegen rechtes Gedankengut als gegen linkes vorgehen - und das meint nicht etwa Linksextremismus, sondern liberale und sozialdemokratische Denkweisen.
SPIEGEL ONLINE: Die ersten beiden Fälle, bei denen Ermittlungen der Medienbehörde bekannt wurden ( ein Ice-T-Song im Tagesprogramm von Tilos Radio und ein reißerischer Bericht über einen Mordfall im TV-Sender RTL-Klub) klingen eigentlich eher kleinbürgerlich, spießig, als politisch gefährlich...
Marsovszky: Aber das sind eben nur die ersten Fälle. Als politisch gefährlich schätze ich die Entwicklung ein, weil ich seit mindestens zehn Jahren die Kommunikation der Fidesz-nahen Medien beobachte - und da ist deutlich zu sehen, dass ein völkisches Denken vorherrscht. Die Gleichschaltung der Medien läuft im Namen dieser völkischen Ideologie. Das ist nicht neu. Diese Ideologie ist seit langem lebendig in Ungarn. Es wurde hingearbeitet auf diese "Revolution in der Wahlkabine", wie Viktor Orbán es ja genannt hat.
SPIEGEL ONLINE: Wie kommen Sie auf den Begriff "völkisch" in diesem Zusammenhang?
Marsovszky: Orbán hielt im April 2008 eine Rede vor Kirchenvertretern, in der er sinngemäß sagte: Wir wollten 1989/90 eine Wende, aber wir müssen einsehen, dass diese Wende keine richtige völkische Wende war. Er verwendete den Begriff "népi-nemzeti", das heißt auf Deutsch "völkisch" und auf Englisch, vom Zeitgeschichtsprofessor Roger Griffin übersetzt, "ethnic racial community", das heißt: eine Volksgemeinschaft. Es gibt Belege dafür, dass hier eine organisch gewachsene, biologische Abstammungsgemeinschaft gemeint ist: das Magyarentum. Dies geht mit einem deutlichen Homogenisierungsdruck einher: Alle, die nicht im Sinne dieser Volksgemeinschaft denken, werden ausgegrenzt.
SPIEGEL ONLINE: Wer ist damit gemeint?
Marsovszky: Vor allem diejenigen, die im Sinne der liberalen Demokratie denken. Das wird so nicht ausgesprochen, aber es gibt Stereotypen, Anspielungen und codierte Ausdrücke. Ein Beispiel: Ein Starjournalist der Rechten, Zsolt Bayer, ein Freund von Viktor Orbán, wurde jüngst angezeigt. In einem Artikel in der Tageszeitung "Magyar Hirlap" schreibt er eindeutig, dass er mehr tote Linke will. Die Organisation, die ihn angezeigt hat, will prüfen: Gilt das neue Mediengesetz auch gegen den Freund von Viktor Orbán?
SPIEGEL ONLINE: Fidesz wurde mit großer Mehrheit gewählt, Meinungsumfragen signalisieren weiterhin Unterstützung für Viktor Orbán. Würden Sie also sagen, dass ein Großteil der ungarischen Bevölkerung dieser von Ihnen völkisch genannten Ideologie zustimmt?
Marsovszky: Das würde ich schon sagen. Und - weil man mir immer unterstellt, ich würde nur gegen die Rechten sein und gegen Orbán hetzen: Es ist so, dass auch die Sozialisten, die in den letzten acht Jahren an der Macht waren, nicht viel dagegen gemacht haben.
"Hatte mir Solidarität aus Europa schon länger gewünscht"
SPIEGEL ONLINE: Hat sich dieses Denken seit der Wende um 1989/90 Ihrer Meinung nach verstärkt? Oder war es schon vorher angelegt?
Marsovszky: Das völkische Denken ist in Ungarn genauso alt wie in Deutschland, und es hat sich auch parallel entwickelt. Aber während die Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg zum großen Teil demokratisiert wurde, kam in Ungarn der Realsozialismus - und da gab es eben auch völkische Denkweisen. Gegen Ende dieser Zeit gab es dann schon mal Ansätze der Demokratisierung, aber sie wurden nach der Wende immer mehr unterdrückt. Nun hat das völkische Denken gesiegt.
SPIEGEL ONLINE: Wie ist ihm das gelungen?
Marsovszky: Nach 2002, als Viktor Orbán und Fidesz, die ja schon einmal an der Regierung waren, die Wahl verloren hatten, hat Orbán eine sehr geschickte Strategie eingeführt, indem er sogenannte "Bürgerkreise" gründete. Sie sollten als ziviles Netz von unten her das völkische Denken verbreiten - und tatsächlich haben sie damit sehr gute Ergebnisse erzielt. Wichtig ist, dass dieses völkische Denken kein demokratisches Denken ist, weil es sich immer wieder durch Feindbilder definiert. In diesen acht Jahren waren das die Linken und Liberalen. Roma und Homosexuelle.
SPIEGEL ONLINE: Wenn Sie davon sprechen, dass sich die völkische Ideologie über Feindbilder definiert - gibt es auch ein positives Selbstbild?
Marsovszky: Sie sagen: Wir kämpfen für das Magyarentum, für die magyarische Einheit - aber implizit sind darin die Feindbilder mitenthalten. Die Homogenisierung richtet sich automatisch gegen alle, die anders denken. Der demokratische Widerstreit wird aufgefasst als etwas, was Unordnung ist, was Chaos bringt. Tatsächlich ist diese Dichotomisierung von Feind/Freund ständig in den Reden und in den Medien enthalten. Es ist ganz typisch, dass die Kommunikation von Fidesz daraus besteht: Wir sind die Ordnung. Wir sind das Licht. Und die andere Seite ist Chaos, der Teufel sogar.
SPIEGEL ONLINE: Gegen das Mediengesetz gab es Ende 2010 eine Demonstration vor dem Parlament in Budapest, an der lediglich 1500 Menschen teilgenommen haben. Was auffiel, war, dass es eher jüngere, parteiunabhängige Leute waren. Sehen Sie Hoffnung in einer Generation, die mit dem Internet und womöglich kosmopolitischeren Werten aufgewachsen ist?
Marsovszky: Ich würde keinen Unterschied machen zwischen Jung und Alt. Die rechtsradikale Partei Jobbik zum Beispiel stammt ja auch von der renommierten ELTE-Universität in Budpaest. Der Parteiführer Gabor Vona war dort Student, die Europaabgeordnete Krisztina Morvai ist momentan beurlaubte Dozentin und sogar ursprünglich eine Frauenrechtlerin. Also kann man das nicht entlang der Generationen einteilen. Aber Hoffnung habe ich, dass sich Widerstand regt. Allerdings kenne ich die ungarische Szene und weiß, dass man hier zwar die Mechanismen kennt, sich gegen etwas aufzulehnen. Aber wie man dann Vorsorge gegen eine neue Gleichschaltung oder Diktatur trifft, das weiß man noch nicht.
SPIEGEL ONLINE: Nun wird das Mediengesetz von den EU-Gremien geprüft - und die Regierung hat zumindest erkennen lassen, dass man entsprechende Einwände berücksichtigen werde. Wie, glauben Sie, wirken sich die europäischen Reaktionen innerhalb Ungarns aus?
Marsovszky: Ich hatte mir so eine Solidaritätswelle schon länger gewünscht,. Viele fassen das als Ermunterung auf und trauen sich, herauszugehen. Viele, die schon ihre Stellen verloren haben, die nicht wissen, wie sie überleben sollen. Was im letzten halben Jahr passiert ist, ist wirklich haarsträubend. Einige erlegen sich schon Selbstzensur auf. Manche Journalisten würden sich sicher nicht trauen, das eine oder andere hinzuschreiben, wenn diese Solidarität nicht wäre.
SPIEGEL ONLINE: Aber kann das nicht auch den gegenteiligen Effekt haben? Dass die Kritik aus dem Rest der EU als Einmischung verstanden wird?
Marsovszky: So versucht es natürlich die Regierung darzustellen. Die Welle der Empörung wird in der regierungsnahen Berichterstattung auch gar nicht so richtig erwähnt. Auch bei der Übersetzung des Nachrichtengesetzes ins Englische wurde einiges herausgelassen, zum Beispiel der Punkt, dass man bis zum 1. Juli nicht mit Sanktionen rechnen braucht. Man wartet das Ende der EU-Ratspräsidentschaft ab, erst dann kommen die Strafen. Deswegen wäre es auch gut, wenn die Lage der Medien und die Lage des Landes auch weiter beobachtet würden.
SPIEGEL ONLINE: Es gibt auch in anderen ost- und mitteleuropäischen Staaten Tendenzen zu einer stark nationalistisch orientierten Politik. Sehen Sie Ungarn in diesem Zusammenhang als Sonderfall?
Marsovszky: Vielleicht sind in Ungarn die ethnisch-nationalen Tendenzen stärker. Dieses Denken hat ja auch immer mit nationalen Traumata zu tun, und Ungarn hat eines, das auch immer noch sehr lebendig gehalten wird: der Frieden von Trianon 1920, als nach dem Ersten Weltkrieg große Teile von Ungarn abgetrennt wurden. Diese Opferhaltung ist sehr lebendig und wird durch Ausstellungen, durch kulturelle Konzeptionen am Leben gehalten.
SPIEGEL ONLINE: Aber anders als die Rechtsaußen von Jobbik stellt doch die Regierungspartei Fidesz die Verträge von Trianon nicht in Frage ...
Marsovszky: Nein, das tut sie nicht. Aber die nationale Symbolik spielt eine sehr große Rolle. Man sagt, man will die kulturell nationale Einheit über die Grenzen hinweg wiederherstellen. Gleichzeitig bekommen die Auslandsungarn die ungarische Staatsbürgerschaft. Es wird viel mit der Symbolik von Großungarn gearbeitet: Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen erscheint Großungarn ganz oft, wie selbstverständlich. Zum Beispiel gibt es eine Sendung vom Verteidigungsministerium namens "Nationale Verteidigung", und da erscheint Großungarn als Eingangsbild, die Städtenamen werden wie selbstverständlich auf Ungarisch verlesen. Das ist schon ein Erbe davon, dass man noch immer in den Kategorien der Zeit vor Trianon denkt.
Das Interview führte Felix Bayer