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Migration: Vom Leben als "Gast"

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Deutschlands Umgang mit Einwanderern Die Mär von der Willkommenskultur

Von der "Gastarbeiter"-Debatte in den Sechzigern bis zur Kritik an #MeTwo: In der deutschen Migrationsdebatte dominieren Erzählungen, in denen Einwanderer abgewertet werden. Woran liegt das?

Die Deutschen erzählen sich gerne Geschichten, zum Beispiel: Es gibt kein Rassismusproblem. Integration ist keine Einbahnstraße. Oder: Es können nicht alle kommen.

Statt zu würdigen, wer dieses Land mitaufgebaut hat, mitaufbaut und prägt, setzt sich solche Folklore durch. Die Haltung dahinter zeigt sich aktuell in der #MeTwo-Debatte, wenn zum Beispiel Mesut Özil vorgeworfen wird, er schwinge die "Rassismus-Keule", und allen, die alltäglichen Rassismus anprangern, sie litten unter "Verfolgungswahn und Verantwortungslosigkeit". Und diese Haltung geht in der deutschen Vergangenheit leider weit zurück.

So lautet eine der Lieblingsgeschichten, die seit Jahrzehnten in Deutschland herumschwirrt: Die "Gastarbeiter", die seit Mitte der Fünfziger- und Sechzigerjahre nach Deutschland kamen, wären freundlich behandelt worden, und hätten Wohnungen und Geld bekommen. Schließlich bekam der Millionste sogar in einem feierlichen Akt ein Moped von Deutschland geschenkt.

Die Wahrheit sieht anders aus: Die "Gastarbeiter" kamen nach Deutschland in Zügen, mussten sich zum Teil ungeheuerlichen medizinischen ("seuchenhygienischen") Untersuchungen unterziehen, machten die Arbeit, die kaum jemand machen wollte, verdienten weniger als ihre deutschen Kollegen, und lebten in Holzbaracken oder Wohnheimen mit sechs Menschen in einem Raum.

Der millionste Gastarbeiter der Bundesrepublik, Armando Rodrigues, im September 1964

Der millionste Gastarbeiter der Bundesrepublik, Armando Rodrigues, im September 1964

Foto: A9999 DB dpa/ dpa

Ihr Kommen war vor allem ökonomisch und politisch motiviert. Italien warb aktiv um das Abkommen, um das Außenhandelsdefizit auszugleichen. Und wegen des rapiden Wirtschaftswachstums in Deutschland in den Fünfziger- und Sechzigerjahren wurden nach erster Zurückhaltung Menschen aus ärmeren südlichen Ländern angeworben. Sie sollten zeitlich begrenzt in deutschen Unternehmen arbeiten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg schloss die deutsche mit anderen Regierungen Anwerbeabkommen, das erste datiert vom 20. Dezember 1955 mit Italien. Es folgten fünf Jahre später Spanien und Griechenland, 1961 die Türkei und später Marokko, Portugal, Tunesien und das damalige Jugoslawien. Seit den Fünfzigerjahren kamen rund 14 Millionen ausländische Arbeiter nach Deutschland, von denen etwa drei Millionen blieben. Unter anderem, weil deutsche Unternehmen das so wollten - nicht aus Solidarität, sondern aus ökonomischen Gründen. Neue Arbeiter anzulernen, wäre für die Firmen teurer gewesen, als die alten zu behalten.

Mit der ersten wirtschaftlichen Rezession in den Jahren 1966 und 1967 begannen die ersten Debatten, die "Ausländerbeschäftigung" zu verringern, was zu einem "Anwerbestopp" in der Ölpreiskrise von 1973 führte. SPD-Bundesminister Egon Bahr sprach sich damals dafür aus, 500.000 Arbeitsverhältnisse, die von "Gastarbeitern" besetzt würden, Deutschen zu geben. Die Stimmung kippte öffentlich.

Helmut Kohls "Ausländerfrage"

1979 legte der erste "Ausländerbeauftragte" Heinz Kühn zwar sein Memorandum vor, wo Begriffe wie "Integration" auftauchten und in dem er Deutschland als "Einwanderungsland" bezeichnete. Aber es wurde weitgehend ignoriert. Stattdessen machte Helmut Kohl später die "Ausländerfrage" zu einem der vier wichtigsten Punkte in seinem Dringlichkeitsprogramm und wollte die Zahl "der Türken um 50 Prozent reduzieren". Sein damaliger Innenminister Friedrich Zimmermann sagte in der Rede vor dem Bundestag am 1. Mai 1983: "Ein konfliktfreies Zusammenleben wird nur möglich sein, wenn die Zahl der Ausländer bei uns begrenzt und langfristig vermindert wird, was vor allem die großen Volksgruppen betrifft."

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Migration: Vom Leben als "Gast"

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Diese Sätze klingen immer noch aktuell - tatsächlich sind wir heute kein Stück weiter, sind die abwertenden Erzählungen immer noch dieselben, wenn zum Beispiel der heutige Bundesinnenminister Horst Seehofer sagt: "Nein. Der Islam gehört nicht zu Deutschland", oder in der Präambel seines Masterplan Integration schreibt: "Erfolgreiche Integration kann nur gelingen mit einer Begrenzung der Zuwanderung."

Die Frage in Deutschland ist damals wie heute: Was bringt uns Migration?

Dahinter steckt implizit immer eine Kosten-Nutzen-Rechnung, wie die Anthropologin Marika Pierdicca und der Sozialwissenschaftler Sebastian Friedrich in ihrem Essay "Migration und Verwertung" festhalten. Sie analysieren unter anderem die Broschüre "Warum brauchen wir Gastarbeiter?" aus dem Jahr 1971. Schon in ihrem Titel wird klar, worum es geht: um den Nutzen. Das Heft benannte aber nicht nur die ökonomische Motivation, sondern reproduzierte gleichzeitig Stereotype:

"Unsere Wohnungen sind selbstverständlich sauber und aufgeräumt; wir legen Wert auf eine gewisse Gemütlichkeit. Dies aber ist den Südländern völlig fremd; warum? Weil eine Wohnung für ihn eine viel geringere Rolle spielt, weil er - das hängt natürlich auch mit dem Klima zusammen - viel lieber draußen ist, vor der Tür. Dort spielt sich sein Leben ab, auf dem Marktplatz, im Dorf, wo er alle seine Freunde trifft, dort ist seine Wohnung."

Auch die aktuelle #MeTwo-Debatte um strukturellen Rassismus wird klar entlang solcher abwertenden Bilder geführt: Oft sollen die Migrantinnen und Migranten der ersten und folgenden Generationen dankbar sein; sie müssen sich "integrieren", müssen sich korrekter als korrekt verhalten. Wenn sie aber dieses Land mitaufgebaut haben - wem gebührt dann eigentlich Dank?

Gleichzeitig tauchen bestimmte Erzählungen über Einwanderung fast nie auf: Eine Geschichte, die fast nie zu hören ist, betrifft die der Autonomie der Migration. Die "Gastarbeiter" wurden nach dem Anwerbestopp kreativ und nutzten Familienzusammenführung, um Menschen nach Deutschland zu holen, die nicht in das Modell der "kleinfordistischen Kleinfamilie" (erwerbstätiger Mann, Hausfrau, ein bis zwei Kinder) passen.  Das zeigt: Migrantinnen und Migranten sind politische Akteure, sie entwickeln autonome Taktiken.

Das zeigte sich etwa auch beim berühmtesten Streik in den Fordwerken in Köln im August 1973, ausgelöst durch die Entlassungen von dreihundert türkischen Arbeiterinnen und Arbeitern, die ihren Urlaub verlängert hatten, weil die Reise mit dem Auto in die Türkei mühsam und vor allem zeitlich nicht planbar war. Das stieß auf wenig Verständnis beim Personalvorstand. Nach knapp einer Woche beendete die Geschäftsleitung den Streik gewaltsam durch die Polizei. Es kam zu Verhaftungen, Inhaftierungen, Entlassungen. Ebenfalls im August streikten Arbeitende in der Autozulieferung Pierburg in Neuss.

Für beide Streiks galt: Die Arbeiterinnen und Arbeiter forderten bessere Arbeitsbedingung und benannten den Rassismus bei der Anwerbung und während der Arbeit. Die "Gastarbeiter" machten noch etwas: Sie brachten den Operaismus, eine Arbeiterbewegung aus Italien, nach Deutschland und lehrten die deutschen Kollegen ihre Streikkultur. Das Ziel dieser Bewegung aus Fabrikarbeitern und Studenten, die sich im klaren Gegensatz zu den Gewerkschaften und Kommunistischen Partei verstanden: offen-subtile Formen des Widerstands und die Etablierung eines multinational ausgerichteten Betriebsrats.

Auch heute gibt es ähnliche Formen des Widerstands: Im Mai verhinderten Geflüchtete in einer Flüchtlingsunterkunft in Ellwangen die Abschiebung eines 23-jährigen Mannes. Sie waren solidarisch, kämpferisch, politisiert. Sie protestierten gegen die Abschiebung und für ihr Recht, gehört zu werden. Und wie in den Streiks der Sechziger- und Siebzigerjahre wurde auch hier gewaltsam gegen sie vorgegangen: Wenn Migrantinnen und Migranten statt Dankbarkeit Forderungen stellen und sich als politische Subjekte zeigen, straft Deutschland sie ab.

Deutsche Willkommenskultur?

Diese Geschichten sind die, die sich eigentlich von Generation zu Generation weitertragen sollten - statt Mopeds und der Mär von der deutschen Willkommenskultur.

Wenn heute Menschen unter #MeTwo über ihre Erfahrungen mit Alltagsrassismus schreiben, zeigt das auch: Deutschland ist seit den Sechzigerjahren in der Debatte über Einwanderung nicht viel weiter gekommen. Wenn sich Menschen immer noch anders behandelt fühlen, obwohl sie die zweite, dritte Generation Migrantinnen und Migranten sind, beweist dies: Es fand nie eine Aufarbeitung statt, in der die deutsche Gesellschaft und Politik Verantwortung übernimmt.

Video: 50 Jahre nur zu Gast? (SPIEGEL TV 2011)

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