Nach Missbrauchs-Doku Wie deutsche Radiosender mit Jackson umgehen
Als die Übergriffsvorwürfe gegen den Schauspieler Kevin Spacey im vergangenen Jahr laut wurden, entschied sich Netflix, die letzte Staffel von "House of Cards" ohne ihn zu drehen; Regisseur Ridley Scott schnitt den Schauspieler ganz aus einem Film heraus - das alles geschah, ohne dass Spacey von einem Gericht verurteilt worden war.
Nun gibt es einen ähnlich gelagerten Fall: Radiosender diskutieren, ob sie nach den Missbrauchsvorwürfen gegen Michael Jackson, die in dem Dokumentarfilm "Leaving Neverland" neu aufgerollt werden, seine Songs noch spielen wollen - eine komplexe ethische Entscheidung: Einerseits scheinen die Vorwürfe in der Doku erdrückend, andererseits wurde Jackson einst vor Gericht freigesprochen. Auch die Frage, ob und inwiefern das Werk eines Künstlers von seiner Person abzukoppeln ist, spielt hier eine Rolle.
Zuletzt hatte das kanadische Medienunternehmen Cogeco bekannt gegeben, in seinen 23 Radiosendern bis auf Weiteres keine Jackson-Songs mehr zu spielen, auch der niederländische Sender NH Radio hatte am Dienstag Jackson-Lieder zunächst aus dem Programm verbannt.
Deutsche Sender mahnen zu Zurückhaltung
In Deutschland mahnen viele Sender hingegen zur Zurückhaltung: Der Westdeutsche Rundfunk (WDR) teilte auf SPIEGEL-Anfrage mit, derzeit keine Streichungen von Michael Jackson-Songs aus dem Programm zu planen. Vielmehr gelte es abzuwarten, ob es nach den in der Dokumentation geschilderten Vorwürfen zu einer neuen juristischen Bewertung komme. "Bei solchen Entscheidungen sollte man immer den Einzelfall genau betrachten und die Frage stellen, ob das künstlerische Werk durch justiziable Vorgänge neu bewertet werden muss", erklärte eine Sprecherin.
Der Sender argumentiert damit ähnlich wie der norwegische Rundfunk NRK, der am Montag angekündigt hatte, zunächst auf Jackson-Songs zu verzichten, dann die Entscheidung aber wieder zurückzog: "Der Entschluss war falsch. Wir müssen zwischen Kunst und Künstler unterscheiden", hatte Rundfunkchef Thor Gjermund Eriksen dazu erklärt. Man habe zu keinem Zeitpunkt über Schuld oder Unschuld des King of Pop befinden wollen.
Warnung vor Schnellschüssen
Antenne Bayern stellte auf SPIEGEL-Anfrage klar, dass die Songs von Michael Jackson in allererster Linie Kunst seien, "die unsere Hörer lieben". "Konsequenterweise müssten auch Museen die Werke von Paul Gauguin abhängen, der eine 13-Jährige geheiratet hat", erklärte die Programmdirektorin Ina Tenz. Sie sagte zudem: "Michael Jackson im Programm zu spielen, bedeutet nicht, dass wir dadurch Kindesmissbrauch tolerieren." Ein Boykott zum jetzigen Zeitpunkt sei zwar pressewirksam, trage aber nicht zur Prävention oder Strafverfolgung von Kindesmissbrauch bei.
Viele Sender warnten zugleich vor Schnellschüssen. "Es ist noch zu früh, um eine abschließende Einschätzung vornehmen zu können", teilte etwa der Norddeutsche Rundfunk (NDR) mit. Und der Südwestrundfunk erklärte: "Nach dem derzeitigen Kenntnisstand sieht sich der SWR bislang nicht veranlasst, Titel von Michael Jackson aus dem Programm zu nehmen."
Auch für radio NRW gilt bis zu einer eventuellen Erhärtung der Vorwürfe die Unschuldsvermutung. "Dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass Jackson in dem zweiten Prozess gegen ihn aus Mangel an Beweisen freigesprochen wurde", erklärte radio NRW-Sprecherin Ina Pfuhler.
Ähnlich äußerte sich auch der Programmdirektor von Antenne Niedersachsen, Carsten Hoyer: "Sollten sich die Vorwürfe gegenüber Michael Jackson erhärten oder neue Details bekannt werden, so werden wir hier intern sicherlich über unser Vorgehen beraten." Denkbar sei dann, die Hörer entscheiden zu lassen, ob Michael Jackson weiter gespielt werden solle.
Im April in Deutschland zu sehen
Und radio ffn berief sich auf aktuelle Marktforschungsergebnisse: "Die Titel, die wir von Michael Jackson spielen, erzielen unverändert sehr hohe Beliebtheits- und Zustimmungswerte", erklärte Musikchef Niklas Gruse. Sollte sich daran aufgrund der Dokumentation etwas ändern, werde man reagieren.
Am Sonntag und Montag hatte HBO die Dokumentation über die Missbrauchsvorwürfe gegen Michael Jackson gezeigt, zuvor war sie auf dem Sundance Film Festival zu sehen gewesen. In Deutschland wird "Leaving Neverland" am 6. April um 20.15 Uhr bei ProSieben ausgestrahlt.