Mohrs Deutschlandgefühl Auch wir in Arkadien
Die deutsche Italien-Begeisterung ist alt und seit Goethes großer Reise sprichwörtlich. Anfang September 1786 mit der Pferdekutsche von Weimar aus aufgebrochen notierte er zwei Monate später, am 1. November 1786: "Ja, ich bin endlich in dieser Hauptstadt der Welt angelangt. Über das Tiroler Gebirg bin ich gleichsam weggeflogen, Verona, Vicenz, Padua, Venedig habe ich gut, Ferrara, Cento, Bologna flüchtig und Florenz kaum gesehen. Die Begierde, nach Rom zu kommen, war so groß, dass kein Bleiben mehr war ..."
"Dass kein Bleiben mehr war" das war und ist die Parole des deutschen Fernwehs nach Italien, eine Phantasmagorie des anderen, glücklichen Lebens unter dem azurblauen Himmel des Südens. "Auch ich in Arkadien" die Unterzeile zu Goethes "Italienischer Reise" haben seitdem Millionen gemurmelt, gesprochen oder laut ausgerufen, die einfach nur losgefahren sind und gleich hinterm Brenner ein neues Lebensgefühl spürten, die Leichtigkeit des Seins.
Seit ein paar Jahrzehnten gibt es neben der Reise eine zweite praktische Möglichkeit für Deutsche, arkadische Gefühle in sich wachzurufen: den Italiener um die Ecke. Oft heißt er Luigi, Paolo oder Rocco und macht die beste Pasta weit und breit. Oder auch nicht. Manchmal warnt er selber vor seinen eigenen Speisen "Heute kann ich 'frische' Mittelmeerfische nicht empfehlen..." und stellt dafür etwas anderes auf den Tisch. Der ist entweder rot-kariert oder blütenweiß gedeckt. Ruckzuck stehen Wasserflasche, Olivenöl, Balsamicoessig, Brot und Pfeffer auf dem Tisch, und dann geht die kleine Oper los.
Zum Italiener gehen heißt Teil einer Inszenierung zu sein. Auf das Essen kommt es da oft nur in zweiter Linie an. Die Gäste eines berühmten Promi-Italieners auf St. Pauli wissen das und schätzen es gleichwohl. Denn es geht um die Atmosphäre, um das gefühlte Gesamtkunstwerk. Selbst in dunkelsten Novembertagen strahlt da etwas, und dazu braucht es nicht einmal jene tausend Kerzen, die "Chefe" Mario Adorf in Helmut Dietls "Rossini" ansteckt, um seine "Loreley" zu beeindrucken.
In einem Wort: Bei seinem Italiener ist der Deutsche nicht nur außer Haus, er ist auch ein bisschen außer sich. Ein anderer Mensch, wenigstens für zwei, drei Stunden. Also lieben wir die Italiener, von denen wir so viel gelernt haben. Ohne Italiener wäre Deutschland anders, als es heute ist.
Gerade in diesen sonnigen WM-Tagen stellen wir fest: Deutschland ist nicht nur "italienischer" geworden im Sinne einer langjährigen kulturellen Anverwandlung es ist auch dabei, zu sich selbst zu kommen. Nur wer sich ändert, bleibt sich treu.
Staunend bemerken wir: Azurblauen Himmel haben wir selber, Pasta kochen können wir auch, und die Zahl der Strandbars nähert sich kalabrischen Zuständen an. In einem Wort: La Dolce Vita, das süße Leben, lässt sich ab sofort auch auf Deutsch buchstabieren.
Wie schrieb gestern der "Corriere della Sera": "Der WM-Traum geht weiter und nährt das enthusiastische Delirium von Millionen Menschen. Von Hamburg bis Bayern scheinen die Deutschen plötzlich ins Jahr 1989 zurückgekehrt zu sein, als sie sich nach dem Fall der Mauer und dem Ende der Teilung als glücklichstes Volk der Welt fühlten."
Mal seh'n, wie das morgen Abend aussieht mit der wunderbaren Zeitreise. So oder so, wir treffen uns alle wieder, spätestens beim Italiener um die Ecke. Bis dahin bleibt der Klinsimeter so stabil wie das Dauerhoch über Deutschland.