Mohrs Deutschlandgefühl Ein Bein im Nirwana

Vorsicht heute: Am zweiten spielfreien Tag klafft das WM-Loch besonders weit, da soll man sich nicht von Fußball-Verächtern ins Bockshorn jagen lassen. Schon gar nicht von Marcel Reich-Ranicki. Besser, man hält sich an Klinsmann und dessen System, wo auch ohne Grammatik steht.
Von Reinhard Mohr

Eigentlich waren wir ja vorbereitet. Physisch und mental. Aber dann sind wir gestern doch noch ins WM-Loch gefallen.

Tolles Wetter, der Körper topfit und der neue Tisch aus altwürttembergischer Rotkernbuche bombensicher wie die 1 im deutschen Tor – aber trotzdem machte sich transzendentale Leere breit, und man ahnte wieder mal, warum ohne Fußball weltweit viel mehr Revolutionen, blutige Aufstände und vergleichbare Eruptionen der geknechteten menschlichen Seele stattfinden würden.

Trainer Klinsmann: Ganz entspannt ins Schwarze treffen

Trainer Klinsmann: Ganz entspannt ins Schwarze treffen

Foto: Getty Images

Mittags gingen wir etwas lustlos zum Vietnamesen in der Auguststraße und hörten, wie eine junge Frau ihren männlichen Begleitern das Phänomen Beckenbauer erklärte: "Selbst wenn der Kaiser auf einer PDS-Liste in Bayern kandidieren würde, die Leute würden ihn sofort zum Ministerpräsidenten wählen." In seiner Regierungserklärung könnte er ja sagen: Ja gut, ääh, der Sozialismus ist an und für sich gar keine so schlechte Idee, nur mit der Umsetzung klappt's halt manchmal nicht so recht.

Schaun mer mal.

Klinsmann ist da schon ein Stück weiter. Sein System steht. Und das Beste: Er glaubt daran.

Gestern ließ er seine Jungs, ein bisschen zen-buddhistisch inspiriert, zur Abwechslung mal mit dem Bogen schießen. Der Gedanke dahinter: Ganz entspannt ins Schwarze treffen, mit spielerischer Ablenkung die Konzentration aufbauen: Ein Bein im Nirwana, mit dem anderen die Kirsche rechts oben reinknallen, bis der Gaucho vom Pferd fällt.

Nur mit der sprachlichen Präzision hapert’s noch ein wenig.

"Argentinien war ja vor der WM-Favorit, aber jetzt haben sie das Pech, gegen uns zu treffen", sagte Miroslav Klose auf der Pressekonferenz des DFB. "Auf uns zu treffen", wollte er wahrscheinlich sagen. Oder vielleicht auch "gegen uns zu spielen". Man muss sich nur entscheiden. Bloß nicht in die Mitte, genau auf den Mann.

Sei's drum. Entscheidend is' auf'm Platz. Und der Gegner, wo einen trifft.

Grammatik üben wir später.

Dafür sind ja auch andere zuständig. Zum Beispiel Marcel Reich-Ranicki. Das letzte Mal, als er ein Fußballstadion betreten hat, war irgendwann im Jahr 1930. Oder 1931. Ganz sicher ist er sich da nicht. Mehr noch: In der heutigen "FAZ" offenbart er seine fröhliche Unkenntnis darüber, dass es 1990 auch schon eine Fußballweltmeisterschaft gab, bei der Deutschland eine nicht ganz unwesentliche Rolle spielte.

Eines aber weiß er ganz genau: "Ich erinnere mich noch sehr gut an Berlin im Jahre 1936. Während der Olympischen Spiele gab es auch viele Fahnen, aber es war bei weitem nicht so ein Spektakel wie heute."

Wie bitte? Was soll denn das heißen?

Hallo Herr Peymann, haben Sie das gehört? Vor wenigen Tagen hatten Sie doch düster in die Tiefe des historischen Raumes gefragt, ja geunkt, ob der Siegeszug der deutschen Mannschaft womöglich ein "Vorspiel ist zu Schlimmerem" wie bei den Nazi-Spielen mit dem Führer, Leni Riefenstahl & Co.

Die Älteren werden sich erinnern: "Olympia. Fest der Völker". Ein Meer aus wehenden Fahnen und stählernen Muskeln. 2006 und 1936 – ist das also nicht eine geradezu gespenstische Zahlenkombination, ein böses Menetekel deutscher Geschichte?

Natürlich meint es Reich-Ranicki ganz anders. Er spricht nur ungeschminkt aus, was er denkt: "Das Flaggenmeer zeugt vor allem von einer Hinwendung zu dem für unsere Zeit so charakteristischen Medienspektakel."

Eben. Und man kann über Kerner und Beckmann, Delling und Waldi sagen, was man will – mit einem Riefenstahlschen "Triumph des Willens" haben sie nun gar nichts zu tun. Aber es ist eben typisch für notorische Fußballverächter wie Reich-Ranicki, dass sie die Fußballfans gerne mal ins Bockshorn jagen.

Zum Schluss fragt "FAZ"-Literaturchef Hubert Spiegel: "Bitte vollenden Sie den folgenden Satz: 'Wenn Musik der Liebe Nahrung ist, dann ist Fußball...", und der Literaturpapst antwortet: "Diesen Satz könnte wohl nicht einmal Shakespeare vollenden: Mein Lieber, die Musik und die Liebe sind unvergleichlich, sie sind einzigartig. Da kann der Fußball nicht mit."

Lieber Marcel Reich-Ranicki, mit Verlaub, warten Sie mal das morgige Spiel Deutschland-Argentinien ab. Sie werden weinende Männer sehen und glückliche Menschenknäuel, die sich am Boden wälzen, wutverzerrte Gesichter und überirdisches Delirieren, Veitstänze und nackte Verzweiflung, strahlend schöne Frauen und tragische Blicke existentieller Verlorenheit.

Sie werden sehen.

Der Klinsimeter bleibt bei zehn.

Bis morgen und Glück auf, Deutschland!

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