Mohrs Deutschlandgefühl Mein Leben mit der Klimakatastrophe
Seien wir ehrlich: Das wahre Drama spielt sich, ganz still und leise, in den Schweizer Bergen ab. Zum Beispiel in St. Moritz. Es ist einfach zu warm, viel zu warm, um all die sündhaft teuren Pelze zu tragen. Fünf, sechs, sieben Grad Celsius plus auf 1800 Metern Höhe Ende Februar 2007 das ist der schleichende Tod der sprichwörtlichen "Pelzschnecke" vulgo Moschus-Schickse oder Bulgari-Braut, egal, ob sie im Privatjet aus Mailand eingeflogen ist oder aus Moskau. Schwitzend kämpfen sich die letzten auftoupierten Luxusexemplare an den Auslagen von Bogner und Gucci vorbei, und auch der Edelglühwein mit den persischen Zimtstäbchen in der Open-air-Bar mundet da nicht mehr so recht.

Skispringer ohne Schnee: Schluss mit Schampusbrunnen am Piz Palü?
Foto: DPAErst ganz oben auf der Corviglia oder dem 3303 Meter hohen Corvatsch sieht man, mit oder ohne Champagnerglas in der Hand, die für alle sichtbare schutzlose Nacktheit der schrumpfenden Gletscher und ist schockiert. Bald könnte Schluss sein mit Schampusbrunnen aus Eis und Wienerli am Piz Palü.
Was also tun? Den 50.000-Euro-Pelz zu Hause lassen und es bei einem 500-Euro-T-Shirt von Armani belassen? Oder gleich mit dem Puschelnerz-Bikini in den Spa- und Wellnessbereich? Wie sich wohl Marie Antoinette entschieden hätte? Wahrscheinlich würde sie ein Wasserschlösschen "Trianon II" mit hängenden Gärten auf die vermatschte Talabfahrt setzen.
Wer hier zum Spott neigt, hat den Ernst der Lage nicht erkannt. Denn eines ist klar wie Christian: Die Klimakatastrophe ist überall.
Auch beim Thailänder in Berlin-Mitte. "Alle Zutaten werden täglich frisch eingeflogen", heißt es auf der ersten Seite der Speisekarte in erschreckender Offenheit. Täglich eingeflogen! Darf man, kann man da zugreifen, ohne zuvor die "Atmosfair"- Klimafolgenausgleichszahlung zu entrichten? Aber an wen bitte genau? An madegassische Reisbauern?
Die japanische Gefahr
Oder sollte man nicht besser gleich auf die brandenburgische Frühkartoffel und saftige Spreewaldgurken als Sättigungsbeilage umsteigen? Immerhin verzichte ich auf das frisch eingeflogene Thai-Bier und trinke korrekt vom deutschen Fass. Im Supermarkt allerdings greift meine verunsicherte Konsumentenhand schon mal zu Strauchtomaten aus dem Senegal, obwohl daneben anständige, klimaneutrale deutsche Ware liegt. Warum? Weil die senegalesischen so schön praktisch verpackt sind. Tut mir leid. Immerhin: Devisen sind kostbar für den Senegal.
Bei der israelischen Süßkartoffel mag ein politisch-historischer Impuls mitspielen (schmackhaft ist sie auch noch), aber was ist mit den Krabben aus dem Nordostatlantik, die wahrscheinlich in Marokko gepult und in Eckernförde verpackt werden? Und Zuchtlachs aus Norwegen?
Muss ich den französischen Rohmilchkäse und italienischen Parmaschinken kaufen, wo es doch der Schafskäse aus Meck-Pomm und die Thüringer mit Senf ebenso täte. Dafür liebe ich deutschen Wein. Rheingau- und Moselriesling, Spätburgunder vom Kaiserstuhl, Silvaner aus Franken. Da geht es mir wie Hans Moser selig beim Gumpoldskirchner: "Ich muss im frühern Leben/Eine Reblaus gewesen sein..." Hochprozentig eingeflogener australischer Eichenholz-Fusel kommt mir jedenfalls nicht auf den Tisch.
Dann schon lieber, wie letztens bei "Figlmüller" in Wien am Stephansdom, ein tellergroßes, hauchzartes Schnitzel. Doch was ist mit der energiefressenden Futtermittelproduktion und dem Methangas-Ausstoß von Schweinemast und Rinderzucht? Nicht zu vergessen: Die klimaschädlichen Berge von Jauche, Natur(!)-Dünger vulgo Viehscheiße auf den Feldern!
Gewiss, mein neuer Massivholztisch ist aus württembergischer Rotkernbuche, total natürlich und echt nachhaltig, aber Computer und Fernseher sind die reinsten Energieschleudern aus japanischer Produktion. Hybridauto hin oder her: Japan tötet Wale! Japan rodet Regenwälder! Japan ach was!
Meine deutschen Deckenlampen dimmen dagegen ortsfest, ganz friedlich und geräuschlos vor sich hin. Leider kenne ich die womöglich verheerende Energiebilanz der kleinen Spezialbirnen nicht. Herd und Kühlschrank sind auch schon einige Jahre alt, dafür scheint bei mir gerade wieder die Sonne durchs Fenster direkt auf den Schreibtisch. Das heißt: Wärme pur, positive Energie ohne Leitungsverlust, Vitamin E kostenlos und, als biochemische Folge, eine seniorengerecht stabilisierte Knochendichte.
Ische 'abe gar keine Auto!
Nichts ist mehr, wie es einmal war. Früher bretterte man mit den Kumpels im VW-Bully mal eben nach Paris zum Croissant-Frühstück, und der einzige "atmosfairige", besser: atmosphärische Ausgleich für die schwarzen Abgasschwaden der alten Kiste jenseits sämtlicher Euro-Umweltnormen war die rotgelbe "AKW? Nein danke!"-Plakette. Die musste reichen fürs gute, linke Öko-Gewissen.
Heute aber, nachdem Angela Merkel zur Jeanne d'Arc des europäischen Klimaschutzes geworden ist, sieht man sich förmlich gezwungen, eine persönliche Bilanz zu ziehen: 2007 schon zweimal geflogen (Wien, Zürich), dazu Mietwagen nach St. Pölten, mehrere Bahnfahrten (darunter mit der "Rhätischen" nach St. Moritz) und einige Dutzend warme Bäder und Duschen mit Lavendelzusatz. Einerseits.
Andererseits: Nassrasierer (kein Stromverbrauch!), Wenig-Föner und gemäßigter Fußboden-Heizer mit Fernwärme Ost! Kein totalitäres Putin-Gas, keine Klimaanlage, die 40 Grad auf 15 Grad herunterdrückt, keine schwiegermuttermörderische Tiefkühltruhe. Im Schlafzimmer ist es während des Winters naturnah eiskalt, und die Esstischlampe wird erst kurz vor dem Berliner Sonnenuntergang angeknipst.
Und: Schon viele Jahre vor der pseudoitalienischen Cappuccino-Werbung konnte ich sagen: Ische 'abe gar keine Auto!
Ab und zu nehme ich einen Mietwagen und behaupte mich dann, unterwegs in die Toskana, auf dem gemeingefährlichen Autobahnring rund um Mailand. Sonst besitze ich nur ein einziges Dienstfahrzeug: Mein Fahrrad. CO2-Ausstoss: Null. Energieeinsatz: Pasta.
Basta.
Zwei existentielle Fragen stellen sich mir in diesem Zusammenhang: Warum erst jetzt die ganze Aufregung? Vor 17 Jahren, im Jahr der gloriosen deutschen "Wiedervereinigung" 1990, als Angela Merkel noch mit ratlosen DDR-Fischern in der klammen Ostseehütte saß, haben die Grünen eine zwar taktisch verfehlte und politisch erfolglose, sachlich aber richtige Wahlkampagne organisiert, die sich um die bedrohliche Veränderung des Weltklimas drehte.
Die zweite Frage nehme ich ganz persönlich. Es ist eine Art Wette zwischen mir und der Welt: Was wird zuerst eintreten leckeres Palmenherzenmousse mit Koriander und Chili-Bambus-Broiler als neue, regionaltypische Sättigungsbeilage auf Rügen oder mein schnödes Ableben - ohne jemals noch eine richtig schöne Talabfahrt im Oberengadin hinunter gebrettert zu sein?