Mohrs Deutschlandgefühl Sozialstaatsselige im Latexfieber

Wenn es aufwärts geht, geht's auch wieder runter. Nach diesem Motto bibberten sich die Deutschen durch 2007. Und sonst so? Eine Weinkönigin führt die SPD, Carla Bruni ist sexier als bayerischer Latex, und die Raucher rüsten zur Revolution.
Von Reinhard Mohr

Das Schönste am zu Ende gehenden Jahr 2007 ist die Tatsache, dass die Jahresrückblicke vorbei sind. Nie zuvor waren sie so früh, und nie zuvor haben sie sich so übermächtig im peinlichen Prominentenquadrat von Günther Jauch und Johannes B. Kerner, Maria Furtwängler und Veronica Ferres abgespielt. Jedenfalls im kommerziellen Fernsehen. Aber auch die öffentlich-rechtliche ARD hat die rein kommerzielle Bambi-Preisverleihung des privaten Verlegers Dr. Dr. Hubert Burda wie einen Staatsakt der Schleichwerbung präsentiert, auf dem Maria Furtwängler, die Gattin des Verlegers, und Veronica Ferres, Deutschlands Betroffenheitsduse Nummer eins, sich die Dankesworte gegenseitig zuschubsten. Tränen inklusive. Motto: Mein Preis, dein Preis, unser Preis. Deutschland, ein Bambi-Märchen.

Auf ungezwungene Weise wurde so aber noch einmal das deutsche Generalthema des Jahres 2007 angestimmt: Der Preis ist heiß, der Aufschwung ist da - aber er kommt nicht an. Jedenfalls "gefühlt". Zwischen dem objektiv nachweisbaren und dem subjektiv gespürten Aufschwung klaffen offenbar Welten. Auch wenn zur Jahreswende eine Mehrheit der Deutschen eher optimistisch in die Zukunft blickt, herrscht bei sehr vielen die Empfindung vor, nicht genug abzubekommen vom großen Kuchen. Oder auch gar nichts. "Stichwort soziale Gerechtigkeit" würde "Dittsche" alias Olli Dittrich sagen, der, nebenbei gesagt, für die mit Abstand beste Werbekampagne des Jahres, wenn nicht des Jahrzehnts steht. Wer braucht da noch einen neuen DVD-Recorder, den man vom iPhone aus steuern kann?

Zwischen Mindestlohndebatte und Managergehältern in Fantastilliardenhöhe, Lokführerstreik und Lottomillionen schwankt die unsichere Volksseele, und es stimmt ja: Die Abstände zwischen oben und unten haben sich vergrößert. Dazwischen ackert die neue alte Mittelschicht und zahlt die Zeche per Steuern und Sozialabgaben. Über all dies wäre intensiv nachzudenken und zu diskutieren, und es passiert ja auch hier und da. Zum Beispiel über die wahrscheinlich unumkehrbare strukturelle Entwertung der menschlichen Arbeitskraft, soweit sie nicht ziemlich flexibel und hoch qualifiziert ist. Oder über soziale Desintegration, Stichwort "Prekariat", die weniger mit Geld- als mit Bildungs- und Zuwendungsmangel zu tun hat. In den Niederlanden ist man da schon weiter: Statt Sozialhilfe für Jugendliche gibt es ab sofort eine Arbeits- oder Ausbildungspflicht bis zum 27. Lebensjahr. Ein durchaus heikles, aber hochinteressantes Experiment.

Lafontaines egomanischer Linkspopulismus

Doch viel leichter und verführerischer ist es, mit populistischen Sprüchen zu suggerieren, es gebe eine einfache Lösung à la "Nehmt's den Reichen und gebt's den Armen." Nicht zufällig ist Oskar Lafontaine das politische Erfolgsmännchen des Jahres. Mit seinen wohlfeilen Linkspartei-Parolen, die durch die meist hochrote Stirn noch gefühlsecht beglaubigt werden, treibt er die SPD vor sich her und verschiebt dabei noch das gesamte Koordinatensystem nach links. Doch was heißt hier links? Horst Mahler war auch mal links. Lafontaines egomanischer Linkspopulismus ist immer nur ein Löschblatt weit entfernt vom Rechtspopulismus eines Jörg Haider (von dem man Gott sei Dank nichts mehr hört).

Umso atemberaubender ist es, wie Kurt Beck, die sozialdemokratische Weinkönigin aus Rheinland-Pfalz, brav der Leimspur folgt, die Oskar & Gregor ausgelegt haben. Zweifellos gebührt Kurt Beck, der wie aus dem Nichts der fallenden SPD-Umfragewerte heraus die Hartz-IV-Gerechtigkeitslücke entdeckt hat, der Titel "Opportunist 2007". Selten wurde derart unverblümt das Denken auf das Prokrustesbett eines parteipolitischen Kalküls gespannt, auf die Streckbank der geistigen Selbstaufgabe. So abenteuerlich provinziell dieses Wendemanöver war, so erfolglos wird es sein. Schon die reine Logik zeigt es an: Wenn alle sozialstaatsselig nach "links" rücken, bleiben die Abstände gleich. Es bringt also nicht einmal mehr Wählerstimmen. Dumm gelaufen.

Doch auch 2007 hat es die Ratio schwer gehabt gegen die wuchernden Ressentiments und Verschwörungstheorien. Wer auf Tatsachen hinweist, gilt im Handumdrehen als Schönfärber. Eine Million neue Jobs per Jahresfrist? Pah, alles nur billige Leih- oder Zeitarbeit, Ausbeutung inklusive! Ausgeglichene öffentliche Haushalte? Von wegen, alles wird kaputtgespart! Drei Prozent Wirtschaftswachstum? Das kommt ja nur den Reichen zugute!

Folgenlose political correctness

So viel ist klar: Den Deutschen kann man es schwer recht machen. Selbst wenn die halbe Welt mit Bewunderung auf dieses Land schaut, das ein Hort von Freiheit, Wohlstand und Stabilität ist im Ozean des globalen Wahnsinns von Terror und Umweltzerstörung, Unterdrückung, Elend und Krieg - wir finden immer was. Benzin, Gas, Strom - alles wird teurer. Schlimm.

Vielleicht mal kurz nachdenken? Was haben wir deutschen Ökologieweltmeister, allen voran Renate Künast & Co., immer gefordert? Genau: Die Ressourcen sind knapp und endlich, ihre Verwendung umweltschädlich. Also muss auch der Preis die Gesamtkosten einschließen, mithin: steigen. Das fördert Sparen, Umdenken, Umschwenken, Alternativen suchen. Von Nachhaltigkeit und Energieeffizienz ganz zu schweigen. Gewiss, die großen Energiekonzerne haben im Zweifel immer Prügel verdient, aber der Zusammenhang bleibt: Wer den CO2-Ausstoß wirklich verringern will, muss den Preis dafür erhöhen.

Aber wir machen lieber symbolische Aktionen, deren PR-Aufwand 100-mal höher ist als jede ökologische Wirkung. Wie bei dem sinnfreien Spektakel "5 Minuten Licht aus!", dem sich nicht von ungefähr Uschi Glas ("Zur Sache, Schätzchen") und Veronica Ferres ("Unser Lehrer Doktor Specht") anschlossen. Man gönnt sich ja sonst nichts außer der hauseigenen Gesichtscreme.

Und auch die als propagandistischer Tsunami herangerollte Afrika-Solidaritätsaktion von Bob Geldof, Grönemeyer & Co. zum G8-Gipfel in Heiligendamm galt vor allem dem guten Gewissen der Teilnehmer. "Move against G8" - das war der globale Hüftschwung einer praktisch folgenlosen political correctness, die kitschige Anmaßung einer politisch inkompetenten Pop-Elite.

Gerne diskutieren wir auch noch 18 Jahre nach dem Mauerfall, ob es einen "offiziellen Schießbefehl" des SED-Politbüros gegeben hat - so lange, bis ein beweiskräftiges Schriftstück als Sensationsfund präsentiert wird, das seit vielen Jahren vor sich hinstaubte. Der Linkspartei reicht es natürlich immer noch nicht als Beleg der Untat. Und Wolfgang Schäuble, der angebliche "Totengräber des Rechtsstaats", befand, es sei ja noch viel schlimmer.

Kombinat der Lebensfreude

Andererseits ist es auch egal. Viele Schüler in Ost und West glauben sowieso, was sie wollen. Zum Beispiel, dass Helmut Kohl die DDR regiert und Erich Honecker mit Katarina Witt eine Herrenboutique in Wuppertal betrieben hat. Und hatte nicht Wolf Biermann, der beliebte Bänkelsänger vom Starnberger See, was mit Margot Honecker, die im Ostberliner Friedrichstadtpalast in der ersten Reihe steppte? Oder war es doch Florian Silbereisen? Und was war die DDR noch mal? Genau, eine Zone der Gemütlichkeit, ein Kombinat der Lebensfreude. Pisa, ick hör' dir trapsen.

Äußerst gemütlich gehen wir auch mit Gerhard Schröder um. Seine grotesken Schönfärbereien des Putin-Regimes, sein Engagement für den russischen Megakraken Gasprom und sein skandalöses Schweigen über die Unterdrückung jeder Opposition in Russland qualifizieren ihn absolut und nachhaltig für den Titel "Lupenreiner Demokrat 2007".

Apropos: Ganz demokratisch haben tausend Muslime der alevitischen Glaubensrichtung in Köln gegen den "Tatort" vom vergangenen Sonntag "Wem Ehre gebührt" demonstriert, weil er angeblich rassistisch-religiöse Klischees verbreite. Wegen "Volksverhetzung" wurde Strafanzeige gestellt. Wir sind gespannt, wie es weitergeht. Für das nächste Jahr ist ein weiterer "Tatort" im Programm vorgesehen, der politisch nicht ganz korrekt ist. Dabei geht es um einen sogenannten "Ehrenmord". Womöglich muss demnächst der zuständige Imam gefragt werden, wenn sich Drehbuchautoren mit der Realität unter deutschen Muslimen beschäftigen wollen.

Nichts mehr hört man dagegen vom deutsch-türkischen Rapper Muhabbet, ein guter Bekannter von Außenminister Steinmeier, der im privaten Gespräch mit einer Redakteurin des Hessischen Rundfunks gesagt haben soll, er hätte den ermordeten holländischen Filmemacher Theo van Gogh nicht so schnell sterben lassen, sondern ihn vorher noch im Keller gefoltert. Desgleichen habe die verfolgte Islamkritikerin Ayan Hirsi Ali den Tod verdient.

"Sänk juu for träwwelling wiss deutsche Bahn!"

Aber so ist unsere liberale Gesellschaft. Sie vergisst auch gerne, was ihr unangenehm ist oder bedrohlich erscheint. Nicht nur in U- und S-Bahnen wird weggeschaut, auch in der unmittelbaren Nachbarschaft. Jeder ist sich selbst der nächste, und im Zweifel ist der Staat schuld. Oder die Gesellschaft. Oder die 68er.

Alles in allem aber sind wir ein glückliches Land. Zwar haben wir keinen Präsidentenkönig wie Nicolas Sarkozy, diese Mischung aus Jean-Paul Belmondo und Monsieur Hulot, der mit Carla Bruni auf intime Entdeckungsreise nach Ägypten geht. Wir haben nur Angela Merkel und Gabriele Pauli, schon rein ästhetisch Antipoden. Aber irgendwo mittendrin, zwischen Physiklabor und Latexhandschuhen, zwischen Albert Einstein und Café Einstein - da ist das Deutschlandgefühl 2007 zu Hause. Ein weites Feld eben.

Apropos Café, Kneipe und Restaurant: Ab 1. Januar gilt auch in der alten Reichshauptstadt ein absolutes Rauchverbot in der Gastronomie. Doch Berlin wäre nicht Berlin, wenn es so friedlich und unspektakulär über die Bühne ginge wie in anderen Bundesländern, etwa in Hessen. Man werde sich einfach nicht an das Gesetz halten, außerdem gebe es ja eine Karenzzeit bis Juli: Derart aufsässig äußerte sich der Wirt des "Zwiebelfisch" am Savignyplatz, eine Kneipe, in deren Rauchschwaden die alten 68er schon vor vierzig Jahren über die Perspektiven der Revolution diskutiert haben. Erinnern wir uns: Auch damals fing alles mit ein paar verbotenen Joints an.

Zum Schluss der Satz des Jahres, der in Tausenden von ICE-Zügen tagtäglich ein Lächeln auf die Gesichter der Reisenden zaubert: "Sänk juu for träwwelling wiss deutsche Bahn!" Sänk juu ohl!

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