

S.P.O.N. - Der Kritiker Der Heiler vom FC Zauberberg


Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt: eine bestimmte Art des Denkens hat verloren
Foto: AP/dpaHans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt war ein Held des therapeutischen Zeitalters. Er war ein Mediziner auf der Höhe seiner Epoche, was nur heißt, dass er gleichzeitig Perfektionist war und Guru, Workoholic und Schamane, Schulmediziner, Nadelpikser, Homöopath, Rationalist, Seelenforscher, Handshaker, Handwerker, Kumpel.
Er hatte, und hat - denn das ist kein Nachruf auf den Menschen und Arzt Müller-Wohlfahrt, sondern auf den Bayern-Doc, über den man wie über die Romanfigur schreiben kann, die er ist, also am besten im Imperfekt - er hatte eine Energie, die heilend wirkte: nicht im esoterischen Sinn, sondern in dem ganz praktischen und direkten Wirken des Positiven in der Welt.
Er wollte heilen, und weil er diese Aura des Gelingens um sich hatte, wie es charismatische Figuren so an sich haben, deshalb aktivierte schon die Begegnung mit ihm die Selbstheilungskräfte des Körpers. Eine fast autosuggestive Begegnung: Die Begrüßung wie unter Sportlern, der Blick in die Augen, direkte Präsenz und große Aufmerksamkeit.
Denn er war - und ist - ein genialer Diagnostiker, ein genauer Beobachter, ein guter Zuhörer - er hatte Zeit, was in seinem Fall nur bedeutete, dass man warten musste, bis er Zeit hatte, lange warten, ein, zwei, drei Stunden. Die Zeit verlor sich und löste sich auf, während man auf der weichen braunen Leder-Couch saß in dem weiten weißen Saal und auf den Wandfernsehern vergangenen Fußballspielen zusah.
Was ist Gesundheit, was Krankheit?
Es war dann tatsächlich - in der Praxis zwischen Feinkost Dallmayr und Manufactum und direkt am Alten Hof in München gelegen - wie im Davos von Thomas Mann, wie er es im "Zauberberg" beschrieben hat: Wo die Zeit selbst zum Thema wurde der Krankheit und der Frage nach Heilung, es also um die philosophische Seite der Gesundheit ging. Nicht, wie heute so oft, um die praktische, bei der Krankheit als das Gegenteil von Gesundheit und nicht als grundlegende Frage an das Wesen der Existenz verstanden wird.
Es war das frühe 20. Jahrhundert, das an diesem Ort auf das frühe 21. Jahrhundert prallte: Die fast meditative Leidensgeschichte etwa der frühen Machbarkeitsmedizin, wie sie der phantastische Schriftsteller M. Blecher in seinem Roman "Vernarbte Herzen" beschreibt, eingegipster Körper, freier Geist - und auf der anderen Seite die fast spirituelle Art, mit der MW auf die technologischen Übermöglichkeiten unserer Zeit reagierte.
Und hier liegt auch der grundlegende und fast tragische Konflikt, der sich nun im Streit mit Pep Guardiola gezeigt hat: Über all dem steht die Frage danach, was Gesundheit ist und was Krankheit, wie man beides abgrenzt und wie man mit beiden umgeht - Intuition also versus Planbarkeit, Warten versus Handeln, Geduld versus Druck, Individualität versus das System, schließlich sogar Vertrauen versus Kontrolle.
Das System als Heilungsinstrument
Das alles konnte man vergessen, wenn mal wieder Usain Bolt oder Arjen Robben vorbeischlichen, während man wartete und wartete und wartete. Aber in diesem Warten lag auch eine Klarheit, es war eine Ruhe, die sich über die Hektik der Heilung stülpte und sie verschluckte: Die Eile ging, und das ist ja der Beginn tatsächlich von einer sehr viel weiter gehenden Gesundung.
Die Figur MW war damit wie zerrissen zwischen den Kräften ihrer Zeit, so wie es eine aufregende Romanfigur sein sollte - alles an ihm war im Grunde literarisch, er war das München, wie es sich über die Jahrzehnte veränderte: das Glamour-München der Siebziger, das Style- und Bussi-Bussi-München der Achtziger, das Pro7-Kirch-Laptop-und-Lederhosen-München der Neunziger, das Outdoor-Fun-Auf-Geht's-München der Nullerjahre. Und das globalisierte Dorf, das diese Stadt geworden ist, vom Geld getrieben, geil.
Eine Weile, sehr lange sogar, hat Müller-Wohlfahrt diese Kräfte gebändigt, so schien es, er hat sie sogar benutzt für seinen eigenen Aufstieg und Ruhm - der Helmut Dietl vom "Monaco Franze" hätte seine Freude an dieser Figur, an dieser Geschichte gehabt.
Und wenn er jetzt hinwirft, nach fast 40 Jahren beim FCB, dann muss das auch nicht heißen, dass er verloren hat oder dass eine bestimmte Art zu denken verloren hat: Es prallten hier ja nicht das Alte und das Neue aufeinander - es stehen sich in diesem Konflikt zwei Seiten des Neuen gegenüber, zwei Möglichkeiten, auf die Gegenwart mit ihren Möglichkeiten und Herausforderungen zu reagieren.
Es geht dabei um den Systemgedanken: Guardiola sieht das System als von ihm geschaffenes Gebilde und als Herrschaftsinstrument. Müller-Wohlfahrt sieht das System als eine mögliche Erklärung und als Heilungsinstrument.
Das eine System ist außen, das andere ist innen. Und jedes Spiel ist ja auch nur eine Repräsentation der Welt.