Multikulti und Flüchtlinge Neue Heimat Deutschland

Was dürfen die Deutschen von Flüchtlingen erwarten? Muss ein Neu-Sachse oder Neu-Bayer die Nationalhymne mitsingen können? Oder sich sogar für den Holocaust verantwortlich fühlen?
Freiwillige Helfer

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Foto: Nicolas Armer/ picture alliance / dpa
Matthias Theodor Vogt

Matthias Theodor Vogt

Foto: David Pinzer

Matthias Theodor Vogt gehört dem sozialen Flügel der CDU an und ist Mitherausgeber der aktuellen Studie "Ankommen in der deutschen Lebenswelt". Der Kulturpolitikwissenschaftler, Cellist und seit 1994 Direktor des Görlitzer Instituts für kulturelle Infrastruktur. Er entwickelte 1992-1995 das Konzept des Sächsischen Kulturraumgesetzes.


SPIEGEL: Sie haben eine Studie über das "Ankommen in der deutschen Lebenswelt" verfasst. Darin ist viel von "Heimat" die Rede. Taugt der Begriff für die Flüchtlingsdebatte?

Matthias Theodor Vogt: Natürlich. Sofern man "Heimat" im Sinne Ernst Blochs versteht: Heimat als Aufgabe. Bloch sagt: "Was allen in die Kindheit scheint und wo noch keiner war". Damit löst er die Heimat von der bloßen Herkunft ab und definiert sie als Leistung des tätigen Menschen, sich einen Raum - und auch eine Zeit - geistig und sinnlich zu erobern. Wir haben eine klare Beziehung zum Raum. Je enger Menschen zusammenwohnen, desto stärker ist die Notwendigkeit gegenseitiger Rücksichtnahme. Wer in ein bestimmtes Territorium hineingeboren wurde, hat von seiner Familie Werte mitbekommen, die ein Miteinander erst ermöglichen.

SPIEGEL: Und was bedeutet das konkret für Flüchtlinge?

Vogt: Wenn ich, zum Beispiel als Flüchtling, in einem neuen Raum heimisch werden will, muss ich dessen Werte erkennen, akzeptieren und anwenden, um mir hier eine Neue Heimat zu schaffen.

SPIEGEL: Heimat mitten in der Globalisierung?

Vogt: Es gibt einen Mainstream, Globalisierung nicht kulturell zu hinterfragen und die mit ihr verbundene Ortlosigkeit nicht als politisches Problem zu sehen. Wenn ich aber beginne, von der Beziehung zum Raum abzusehen und denke, alles ist eins, ergibt sich eine sehr große Fehlstelle. Und mit dieser Fehlstelle wird derzeit eine massiv vereinfachende Politik gemacht.

SPIEGEL: Die Skepsis gegenüber dem Heimatbegriff hat ihre Ursachen.

Vogt: Selbstverständlich. Deutschland gleich ganz auflösen zu wollen in einen Multikulti-Diskurs, war eine etwas späte Reaktion auf die Ursachen des Zweiten Weltkrieges. Da bewundere ich die baden-württembergischen Grünen. Die haben es geschafft, den bislang ziemlich verpönten Begriff des Bodens wieder hineinzunehmen in ihr wohl auch deshalb erfolgreiches Parteiprogramm. Virtuelle Dörfer mitten in der Großstadt sind ein origineller und zeitgemäßer Heimatbegriff.

SPIEGEL: Nun ist es eine Tatsache, dass es seit dem Zweiten Weltkrieg noch nie so viele Heimatlose gab wie heute. Müssen sich nicht Vertriebene in ihre Ortlosigkeit fügen und sie als Chance begreifen?

Vogt: Wer seine erste Heimat verlässt, durchläuft als Erwachsener wie im Zeitraffer noch einmal zwei Prozesse der Kindheit. Das Kind lernt sehr früh seine Umgebungssprache. Das ist ein sinnlicher Prozess. Das Kind möchte von sich aus verstehen, was Eltern und Geschwister sagen. Es möchte spüren, wie alles klingt, wie es riecht, wie es schmeckt. Dies ist Enkulturation, das vor-bewusste und selbstgesteuerte Hineinwachsen in eine Umgebungskultur. Später beginnt die Akkulturation, das von anderen geleitete bewusste Eindringen in die Normen, Werte und Ordnungen des Zusammenlebens, auf der Schulbank mit anschließendem Initiationsritus, der Firmung, dem Gesellenbrief, dem Abitur et cetera. Politik und Wissenschaft haben bislang die Funktion der sekundären Enkulturation im Migrationsprozess beim Aufbau einer neuen Heimat und bei der Überwindung von Ortlosigkeit stark unterschätzt.

SPIEGEL: Und die Rolle der Künste dabei?

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Matthias Theodor Vogt, Erik Fritzschke, Christoph Meißelbach

Europäisches Journal für Minderheitsfragen Heft 01-02/2016, Jg. 9: Ankommen in der deutschen Lebenswelt. Migranten-Enkulturation und regionale Resilienz in der Einen Welt (EJM (ZS))

Verlag: Berliner Wissenschafts-Verlag
Seitenzahl: 524
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01.04.2023 03.45 Uhr

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Vogt: Bei solchen sinnlichen und emotionalen Prozessen spielt die Kunst eine wesentliche Rolle, denken Sie bei Kindern an Wiegenlieder oder Rollenspiele im Kindergarten. Sie spielt aber auch eine zentrale Rolle bei den Erkenntnisprozessen.

SPIEGEL: Der neu Hinzugekommene verfügt aber bereits über seine kulturellen Prägungen.

Vogt: Die Erinnerung an unsere Kindheit bleibt uns als das Besondere erhalten. Als etwas, zu dem wir innerlich immer hinstreben werden. Aber jetzt geht es darum, aktiv, sinnlich und bewusst eine neue Heimat aufzubauen. Diese neue Heimat muss kompatibel sein mit der neuen Umgebungskultur. Umgekehrt muss die Ankunftsgesellschaft ein Ankommen ermöglichen. Und nicht erst am Ende des Lebens. "Angekommen bist Du, wenn Du unter der Erde liegst," hieß es in der Lausitz über die Nachkriegsflüchtlinge, die in der DDR oft genug keine neue, sondern eine kalte Heimat fanden: Das darf nicht sein. Deshalb die zweite Bedingung: Das Aufnahmeland muss die Rückerinnerung an die alte Heimat gewähren lassen. Auch die mitgebrachte alte Heimat braucht ihre ritualisierten Formen. Für Westdeutschland hat man dafür den Pfingstsonntag genutzt. Da durften die Rumäniendeutschen oder Ungarndeutschen ihre Trachten auspacken, und man durfte sich einen Tag als geschlossene Gruppe fühlen. Pfingstmontag fuhr man nach Hause. Pfingstdienstag ging die Arbeit wieder los. Der Pfingstsonntag wäre auch heute kein schlechtes Datum für einen Tag der interkulturellen Integration. Politisch gesehen brauchen wir beides: Die Bereitschaft des einzelnen, sich einzulassen auf die neue Umgebung und die Möglichkeit, die alte Heimat zu leben.

SPIEGEL: Und was erwarten Sie von einem Neu-Sachsen?

Vogt: Dass er einiges von der sächsischen Topografie erfahren und sich erarbeitet hat. Dass er eine Verbindung mit der hiesigen "Scholle", wie das früher einmal hieß, aufbaut. Möglicherweise ist Deutschland zu groß, um gleich eine Vertrautheit für das Ganze empfinden zu können. Sollte es nicht zu denken geben, wenn Cem Özdemir in einer listigen Volte Schwäbisch neben Türkisch als seine Muttersprache bezeichnet und Hochdeutsch nur im politischen Berlin nutzt? Vielleicht sollten wir über die Möglichkeit von Landesbürgerschaften nachdenken. Die hessische oder hamburgische oder badische Staatsangehörigkeit war der Normalfall. Bis 1934 Hitler mit einem Federstrich den Bezug der Menschen zu ihrem Land tilgte und die Reichsangehörigkeit für alle einführte, die seit Kurzem Staatsangehörigkeit heißt. Denen, die jetzt neu nach Deutschland kommen, könnten wir das Angebot eines Landesbürgerschaft machen. So wie es in der Schweiz eine Bürgerschaft auf der kommunalen Ebene gibt. Das würde das Ankommen in der deutschen Regelwelt erleichtern. Die jetzigen Staatsbürgertests haben nichts mit der Lebenswirklichkeit zu tun; Österreich oder eben die Schweiz lösen das deutlich besser. Könnte man mit einer Landesbürgerschaft auch unter den Schwaben oder eben Sachsen eine ganz andere gesellschaftliche Kohäsion erreichen, als dies derzeit der Fall ist?

SPIEGEL: Viele Bayern wären entzückt von Ihrem Vorschlag.

Vogt: Ich sage nicht, dass man von heute auf morgen eine bayerische Staatsangehörigkeit einführen und den im Moment leeren Artikel 6 der Bayerischen Verfassung umsetzen sollte. Aber es wäre sinnvoll, darüber zu diskutieren, was Angehörigkeit eigentlich bedeuten soll und was sie in unserm Inneren für die Vorstellungen von unserem Land tatsächlich bedeutet. 1871 gab es das natürliche Indigenat. Ein Bayer, der nach Preußen gezogen ist, hat dort die gleichen Rechte bekommen wie ein Preuße, er wurde als Quasi-Inländer behandelt. Das haben wir auf der europäischen Ebene bereits, und es könnte stärker an das Regionale gebunden werden. Nicht unbedingt auf rechtlich-normativer Ebene, sondern indem wir fragen: Was löst etwas aus in den Köpfen von Menschen? Wie läßt sich Identität so stärken, dass sie nicht zu Ausschlusshandlungen führt?

SPIEGEL: Welche Politik schlagen Sie für Sachsen vor?

Vogt: Interkulturelle Integration muss bei den Sachsen anfangen und hat doch noch kaum begonnen. Sachsen war seit jeher ein Aufnahmeland. Am Anfang siedelten Slawen. Dann kamen Flamen, Niedersachsen, Thüringer, Alemannen, Polen, Böhmen. Die Fremden wurden zu Tüftlern, um die Einheimischen zu beeindrucken. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die eingewanderten Böhmen produzierten um 1900 im vogtländischen Musikwinkel neunzig Prozent der Saiten weltweit. Es gibt so viel, auf das die Sachsen stolz sein können und das sich erfolgreicher Integration verdankt. Dies könnte man darstellen in einer dezentralen Landesausstellung, in der jeder Verein, jeder Stadtteil, jedes Dorf beitragen könnte zu einer historischen Recherche über den Zusammenhang von Integration und Innovation. Das wäre dann gleichzeitig die Grundlage für ein digitales Landesmuseum nach dem klugen Vorbild der Digitalabteilung des Deutschen Historischen Museums. Es wäre vor allem eine Antwort auf diese völlig falsche Grundannahme der Pegidisten, dass das Abendland immer schon so war wie es jetzt ist. Es ist absurd, Mauern gegen den Orient errichten zu wollen, dem wir Dinge verdanken wie die Algebra, den Garten, die Klosterarchitektur, die Null, die Liebe als Kunst etc. Es gäbe keine deutsche Technik ohne arabische Erfindungen.

SPIEGEL: Muss ein afghanischer Neubürger auch Verantwortung für den Holocaust annehmen?

Vogt: Letzten Endes ja. Um Mitglied einer Solidargemeinschaft zu werden, die eine Rechtsgemeinschaft ist, die wiederum eine Wertegemeinschaft ist, muss man sich einklinken in diesen Prozess. Geschichte prägt eine Gemeinschaft, und ich muss sie annehmen, um zu verstehen, weshalb wir hier in der Bundesrepublik diese einzigartige Chance der Artikel 1 bis 19 im Grundgesetz haben. Die Rechte und Pflichten des Einzelnen werden ganz am Anfang genannt. Erst aus ihnen wird dann der Staat abgeleitet, erst in Artikel 20 folgt die Staatsdefinition. Hierin liegt die große Besonderheit Deutschlands, das sich eben nicht als Nation definiert, sondern als Gemeinschaft geteilter Werte. Nicht der Staat steht im Vordergrund oder gar seine Vertreter, sondern seine Schutzfunktion für die gemeinsamen Werte. Die Bundesrepublik hat nach 1945 die Verantwortung für das geschehene NS-Unrecht als moralische und als rechtliche Pflicht auf sich genommen, im Unterschied zur DDR, die eine Rechtsnachfolge abgelehnt hat. Zu dieser Verantwortung gehört die tätige Erinnerung jedes Einzelnen, damit wir an unsere Kinder und Enkel dasjenige weitertragen, was der normative Hintergrund der Artikel 1 bis 19 ist. Menschen, die vorhaben, sich bei uns unbefristet niederzulassen, müssen diese tätige Erinnerung mit uns teilen und ihrerseits weitergeben.

SPIEGEL: Würden Sie verlangen, dass der Fußballprofi Mesut Özil vor einem Länderspiel die Hymne mitsingt?

Vogt: Das Grundgesetz kennt keine Hymne. Ersatzweise singen wir die dritte Strophe eines kroatischen Liedes über den Sonnenaufgang, das Joseph Haydn aufgegriffen hat, zu Ehren des österreichischen Kaisers. Zu dieser Melodie hat der Breslauer Hoffmann von Fallersleben ein Lied über den deutschen Zollverein geschrieben, das sagt: Die Aufhebung der Zölle hat mehr Gemeinsamkeit und gesellschaftlichen Zusammenhalt gestiftet als alle Politik. Auf einer von den Briten besetzten Nordseeinsel griff dann der gleiche Hoffmann von Fallersleben auf die Flüsse-Idee aus einem mittelalterlichen Lied Walthers von der Vogelweide zurück. Fallersleben schrieb sein Zollvereinslied um zu einem Lied über das Land der deutschen Sprache. Er meinte die Sprache, nicht den weltlich-politischen Raum. Wir haben hier in ein paar wenigen Zeilen die Inkarnation mitteleuropäischer Geschichte. Und deshalb lohnt es sich immer, diese Hymne auf die Rechtsstaatlichkeit zu singen.

SPIEGEL: Nun suchen sich die Neubürger gern Orte, wo Menschen vergleichbarer Herkunft leben, mit einer Sprache, die er versteht, mit denen er, und sei es über sieben Ecken, zusammengehört. Das wird weder Enkulturation noch Akkulturation fördern.

Vogt: In unseren 400 Stadt- und Landkreisen in Deutschland haben wir nur etwa 50, in die die Asylbewerber von sich aus gehen. Dies birgt die Gefahr, dass sich Parallelgesellschaften bilden, die sich mit Deutschsprechenden kaum austauschen und deren Mitgliedern so die Teilhabe verwehrt bleibt. Natürlich gibt es solche Extreme auch auf der anderen Seite. Eine Parallelgesellschaft bilden auch diejenigen, die gegen alle historische Erfahrung dem Popanz einer singulären Nationalkultur nachlaufen und damit ihrerseits aus der Mitte unserer Gesellschaft ausscheren. Es ist immer problematisch, wenn man nur innerhalb einer geschlossenen Gemeinschaft kommuniziert. Damit eine Gesellschaft als Ganzes wirtschaftlich, sozial und politisch gedeihen kann, müssen hinreichend viele ihrer Mitglieder überzeugt werden, sich von Abgeschlossenheit langfristig zu lösen und sich durch Leistung zu bewähren, nicht durch Abstammung oder/und Vitamin B.

Heimat ist...

SPIEGEL: Ist die Großstadt oder ist das Land günstiger für ein Ankommen in der deutschen Lebenswelt?

Vogt: Respekt vor der eigenen Heimat findet man leichter auf dem Land, und dies wiederum ist die Grundlage, um die alte Heimat eines anderen anzuerkennen und nicht bloß für interessant zu halten. Damit Ankommende sich eine neue Heimat sprachlich und tätig aufbauen können, muss man sich sehen, miteinander sprechen, statt in der S-Bahn aneinander vorbeizuhasten. Deswegen sind die Bedingungen für das Ankommen in der deutschen Lebenswelt in Berchtesgaden und anderen Stellen durchaus gegeben. Insbesondere wenn die Erinnerung an das Flucht- und Vertreibungsschicksal unter den Deutschen stark ist. In Gemeinden mit weniger als 100.000 Einwohnern wohnen 69 % der deutschen Bevölkerung.

SPIEGEL: Sie sind Mitglied der CDU. Kann Ihre Kanzlerin die Wahlen im Herbst gewinnen, ohne sich von ihrer eigenen Flüchtlingspolitik zu distanzieren?

Vogt: Ich bin ziemlich viel in der Welt unterwegs und glaube sagen zu können: Die Bilder der Willkommenskultur auf dem Münchner Hauptbahnhof gingen um die Welt. Mit ihnen haben wir den braunen Schatten der NS-Vergangenheit nach siebzig Jahren endlich abgestreift. Kein Politiker hätte das je inszenieren können. Wir können wirklich stolz sein auf das, was 2015 und 2016 auf der zivilgesellschaftlichen und kommunalen Ebene passiert ist. Schon lange vor dem berüchtigten Tweet des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 25. August 2015, dass ab sofort auch unregistrierte Flüchtlinge aus Syrien in Deutschland anerkannt würden, waren jeden Monat mehr als 50.000 Asylsuchende nach Deutschland gekommen und willkommen geheißen worden. Als Österreich dann am 4. September in Berlin anrief und um Aufnahme der von der ungarischen Regierung in Busse gesetzten Flüchtlinge bat, hat sich die Bundeskanzlerin in einer Ausnahmesituation entschieden, auf diese inneren Kräfte zu setzen. Es gibt eine lange Kette des Versagens der internationalen Staatengemeinschaft, die zum 4. September geführt hat und an der Angela Merkel wenig bis keinen Anteil hatte. Und wir sollten nicht vergessen, dass die Bundesrepublik, noch unter Helmut Kohl, die Lasten des Migrationsproblems seit 1990 einseitig bei den Ländern mit EU-Außengrenzen abgekippt hatte und nun davon nicht überraschend, aber plötzlich eingeholt wurde. Man kann natürlich, wie Horst Seehofer an jenem Abend, sein Handy ausstellen und anschließend sagen, man hätte, wenn man denn nur gefragt worden wäre, eine ganz andere Entscheidung als die der humanitären Ausnahme getroffen.

SPIEGEL: Manche Kritiker sagen, die Entscheidung sei nicht demokratisch legitimiert gewesen.

Vogt: Schon vor dem 4. September haben in Deutschland Flüchtlingsheime gebrannt. Große Teile des Volkes haben sich gegen solche Attacken verwahrt und gegen sie protestiert. Wir hatten also durchaus eine Meinungsbildung und damit eine basisdemokratische Legitimation. Eine solche Haltung kommt nicht von ungefähr. Wir haben seit vielen Jahrzehnten deutlich mehr als 50% von Menschen, die spenden, der eine mehr, der andere weniger. Auch bei den unter 25-jährigen haben wir eine Spitzenposition in Europa. Politisch können Sie von einem Solidaritätszuwachs durch praktizierte Barmherzigkeit gegenüber Dritten, als unverzichtbare Voraussetzung für gesellschaftlichen Zusammenhalt, sprechen.

SPIEGEL: Was war Ergebnis der Entscheidung?

Vogt: Die viel diskutierte Öffnung der Grenzen hat zu einer Zunahme der Wohnbevölkerung um rund ein Prozent geführt. Dies war verbunden mit einer Belastung der öffentlichen Haushalte von ebenfalls rund einem Prozent, wobei die Mittel sofort wieder zurückgeflossen sind in die Wirtschaftskreisläufe. Der Anteil der Flüchtlinge an den Billiarden einzelner Entscheidungsprozesse innerhalb einer hochentwickelten Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft wie der unseren ist schlicht vernachlässigbar. Er steht im umgekehrten Verhältnis zu ihrer medial-politischen Aufmerksamkeit. Und eine seriöse Berechnung der Kosten müsste umgekehrt auch den weltweiten politischen Ansehensgewinn ins Kalkül nehmen und sehen, dass die öffentlichen Nettoaufwendungen für die Flüchtlinge kleiner sind als die Strafzahlungen deutscher Konzerne und Banken allein in den Vereinigten Staaten.

SPIEGEL: Teile Ihrer Partei, gerade in Sachsen und in der bayerischen Schwesterpartei, wollen von all dem, von Einwanderung, Asyl, Flüchtlingsschutz nichts wissen.

Vogt: Alle Länder sind das Produkt laufender Migrationsprozesse. Nicht-Migration, verhindert durch Staatengrenzen, Polizei etc. ist die absolute Ausnahme, eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Die große Kraft der Bundesrepublik nach 1945 war ihre Fähigkeit zur Adoption. Wir verdanken den Ostflüchtlingen ganz wesentliche Teile unseres Wirtschaftswunders. Die Banat-Deutschen sind die am meisten mit Nobelpreisen ausgezeichnete Gruppe der Deutschen überhaupt, mit zwei Preisträgern: der Dichterin Herta Müller und dem Göttinger Mikroskopforscher Stefan Hell.

SPIEGEL: Darüber wurde auf den Aschermittwochstreffen der CDU eher nicht geredet.

Vogt: Mag sein. Die CDU ist als christliche Partei mit dem Gebot verbunden, nicht Stärke zu suchen, sondern Gott im Schwachen zu suchen. Das ist das Grundgebot, ob nun konkret christlich oder von Gott abstrahierend wie in den Normen der französischen Revolution und der Menschenrechte. Es ist die Voraussetzung, um Einheit nicht in irgendwelchen genetischen Markern zu finden, sondern in einer Grundgestimmtheit: Deutscher ist einer, der die Artikel 1 bis 19 verinnerlicht hat. Das ist CDU.

SPIEGEL: Nur dumm, dass die niederen Instinkte derzeit wieder einen Sex-Appeal bekommen.

Vogt: Im gegenwärtigen Europa, in den Vereinigten Staaten oder der Türkei (t)wittern viele ihre Chance, auf jene barbarischen Komplexe zu setzen, die im Interesse einer Zivilität der Gesamtgemeinschaft eigentlich eher abgebaut werden müssten: auf Neid, Missgunst, Aggression, auf alles, was in der Anonymität der sozialen Netze und in den Trollfabriken mancher Mächtiger wuchert. Schon Dante hat beschrieben, wie der Weg nach unten immer der bequemere ist, eben weil er abschüssig ist. Der Weg der Tugenden dagegen ist bei Dante schmal, steil, anstrengend und nur für den intrinsisch Motivierten bewältigbar. Für populistische Vereinfachungen eignet er sich nicht, für gesellschaftlichen Zusammenhalt sehr wohl.

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