Abgehört Die wichtigste Musik der Woche
Coldplay - "Ghost Stories"
(Parlophone/Warner, seit 16. Mai)

Lassen Sie sich bloß nicht von dem ganzen Bullshit einlullen. Als besondere Promo-Maßnahme zur Veröffentlichung veranstalteten Label und Band eine Schnitzeljagd nach Chris Martins neuen, angeblich sehr poetischen Songtexten in Bibliotheken auf der ganzen Welt. In Bibliotheken! Die Anmaßung!
Die Poesie liest sich dann ungefähr so: "I think of you/ I haven't slept/ My body moves (…)/ But my heart stands still". Und das sind nur die ersten Poesiealbum-Verse des ersten Songs von "Ghost Stories"; es wird dann eine Dreiviertelstunde lang nicht mehr besser oder gar tiefgründiger. Das Lied heißt zum Glück nicht "Always On My Mind", sondern "Always In My Head", immer im Kopf drin, so wie einer dieser schrecklichen, klebrigen Ohrwürmer, von denen Coldplay über die Jahre zu viele produziert haben.
Gemeint ist aber natürlich nicht die erneute, säuselnd-seichte Attacke auf die Hirne der Fans, sondern Gwyneth Paltrow, Chris Martins Ex-Gattin. Der im März verkündeten Trennung, angeblich ein "conscious uncoupling" im gegenseitigen Einvernehmen, folgt nun das zugehörige Break-up-Album, und genauso leidenschaftslos, windelweich und verkrampft auf Eierkuchen machend wie das offizielle Statement des Promi-Pärchens hört sich auch Martins Klagegesang an.
Man muss nicht so weit gehen wie der Kollege des britischen Musikblogs "The Quietus", der in seiner (grandios wütenden) Rezension nicht nur gefühlte 50 Mal das Wort "f***ing" benutzt, sondern die Musik auf "Ghost Stories" unter anderem mit tröpfelndem Elefanten-Smegma vergleicht. Das Ganze sei so farb- und substanzlos wie Paltrows Urin.
Das ist einerseits höchstwahrscheinlich korrekt, andererseits aber natürlich auch ein cheap shot: Wann waren Coldplay zuletzt nicht farb- und substanzlos? Das Beeindruckendste an dieser sechsten Coldplay-Platte ist tatsächlich, dass Martin es schafft, jegliche Chancen, die ein solches Trennungsalbum ermöglicht, ungenutzt zu lassen. Mehr als acht Millionen Exemplare verkaufte die Band von ihrem letzten Album, dem obszön überblasenen "Mylo Xyloto". Angesichts solcher in heutiger Zeit selten gewordenen Zahlen hätte die Plattenfirma wahrscheinlich gleich beide Augen gnädig zugedrückt, wenn der Goldesel zur Abwechslung mal etwas riskieren will, was dann vielleicht nur fünf oder sechs Millionen Mal gekauft wird.
Ein Trennungsalbum! Da könnte man wüten oder ätzen, ganz karg werden oder richtig laut. Vorbilder gibt es genug: Es muss ja nicht immer gleich "Shoot Out The Lights" oder "Blood On The Tracks" sein, es hätte ja schon "Rumours" gereicht. Himmel, von mir aus auch "Tunnel Of Love" oder "Face Value". Man gönnt Chris Martin ja seine Trauer, seine Verwundung. Aber wo, inmitten all dieser Larmoyanz, die sich zum Ende des Albums dann auch noch ganz supi-dupi versöhnlich in Akzeptanz und transzendentalem Mist auflöst, wo zum Teufel ist der Hass, die Bitterkeit, die Gewalt, die Rache, wo ist das Extrem? Gibt's nicht. Wäre wahrscheinlich zu radikal gewesen, zu viele Ausschläge im Emotionalen und im Dezibelbereich, man will ja niemanden bei seinen Yoga-Übungen oder Farbtherapie-Partnerübungen erschrecken, oder was immer Coldplay-Fans machen, während sie nebenbei diese Tu-mir-nicht-weh-Mucke laufen lassen.
Musikalisch hat "Ghost Stories" immerhin einige schöne Momente. Vom "Mylo Xyloto"-Bombast und der zwanghaften Schunkelei "Viva La Vidas" befreit, sind Coldplay immer dann am besten, wenn sie ihre ausgetrampelten Pfade verlassen (also nicht wie U2 ohne Eier klingen) und sich auf die sphärischen, elektronischen Flächen und Tupfer ihres Mitproduzenten Jon Hopkins einlassen, wie im Triplet aus "Midnight", "Another's Arms" und "Oceans", in denen so etwas wie Atmosphäre entsteht, ein warmes, aufrichtiges Bon-Iver-Gefühl (auch so einer mit einem Trennungsalbum, aber einem guten). Doch aus diesem angenehmen Schweben im Schmerz wird man gleich danach wieder unsanft herausgerissen, durch die alles umarmende Umfta-umfta-Hymne "A Sky Full Of Stars", produziert von Großraumdisko-Beschaller Avicii.
So kann man "Ghost Stories" wohlwollend als unausgegorenes, teils gelungenes, teils vergrütztes Zwischenwerk betrachten, das möglicherweise in eine musikalisch interessante Zukunft Coldplays im Elektronik-Genre weist. Böswillig betrachtet ist das Album der an Heuchelei und Pseudo-Gefühligkeit, vulgo Zynismus, nicht mehr zu übertreffende Offenbarungseid einer Band, die ohnehin schon ein Synonym für den Relevanzverlust der Popmusik ist. Suchen Sie sich was aus. (3.0) Andreas Borcholte
Glitterbug - "Dust"
(Notown/Kompakt/Rough Trade, seit 16. Mai)

War der diesjährige Eurovision Song Contest nicht die höchstwahrscheinlich unterhaltsamste Nicht-Fußball-Übertragung des gesamten Frühlings? Ich würde dies beinahe verneinen, denn die von Barbara Schöneberger unfassbar dümmlich moderierte Aftershowparty vom Hamburger Spielbudenplatz schlug das vorangegangene Wurstspektakel noch um Längen.
"Finnland hat mich wirklich abgeholt, wo ich war" stammelte sie, dann gab es U2 für Trottel (Revolverheld), die verblödete deutsche Jugend, die Wurst hilflos mit "Er/sie/es" anredete, und natürlich Reamonn-Facharbeiter Rea Garvey, den ich seit einer kürzlich gesendeten Talkshow im hessischen Fernsehen leider ernorm sympathisch finde. Irgendwann - Helene Fischer spielte gerade grauenhaften "fröhlichen Mitmach-Pop mit Pfiff", entkorkte ich den Portwein, drehte den Ton weg und legte "Dust" auf. Glitterbug! Deep Techno, industrieller Untergrund, zerfallene Städte, morsches Holz, Bergspitzen, Luftlöcher, Relikte im Rauchnebel und Regentropfen, die am Zugfenster herunterlaufen. Till Rohmann ist so etwas wie eine Geistererscheinung, und seine mal fragmentarisch, mal vollendet wirkenden Tracks funktionieren im Kaufhaus, "zu Hause auf der Couch" (Kai Dittmann) und unter Tage. Melancholisch? Schon. Aber auch warm, galaktisch und ausgreifend. Lonely press play. (7.2) Jan Wigger
Sharon van Etten - "Are We There"
(Jagjaguwar/Cargo, ab 23. Mai)

Persönlich und authentisch. Auch diese Begriffe tauchten beim Sangeswettbewerb in Kopenhagen mehr als einmal auf. Als seien dies Kategorien, die bei der Beurteilung von wirklich wichtiger Musik irgendwie nennenswert oder gar unverzichtbar wären. Und doch müsst ihr Euch entscheiden: Wollt ihr Walter-Mitty-Quatsch ("Stop dreaming. Start living.") oder next level shit? "I Love You But I'm Lost", "Nothing Will Change" und "Your Love Is Killing Me", so geht es dahin auf Sharon van Ettens neuem Album "Are We There".
Wer genauer hinhört und auch "Tramp" kennt (wir stellten es damals vor), weiß allerdings, dass neue Formen und leise Hoffnungen immer auch zum Weg der auf Platte so abendlich auftretenden Künstlerin gehörten. Das Infoschreiben, sonst oft nur als Ärgernis zu gebrauchen, legt im Fall von "Are We There" sehr beredt Zeugnis ab: "Sie singt von der Natur des Begehrens, der Erinnerung, davon, verloren zu gehen, der Leere, von Versprechungen und Loyalität, Angst und Wandel, von Heilung und dem wahren Selbst, Gewalt und Zuflucht, dem Warten und der Stille". Musikalisch steht "Are We There" erstaunlich stabil, was auch mit dem "Boardwalk Empire"-Mann Stewart Lerman zusammenhängt, der van Ettens fragile Konstruktionen stets vor dem Auseinanderfallen bewahrt. Knallhart existenzielle Themen werden uns trotzdem nicht erspart: "Break my legs so I won't walk to you/ Cut my tongue so I can't talk to you/ Burn my skin so I can't feel you/ Stab my eyes so I can't see." Herzlichen Glückwunsch zur Psychose! (7.4) Jan Wigger
La Sera - "Hour Of The Dawn"
(Hardly Art/Cargo Records, seit 16. Mai)

Wer ist La Sera? Auf dem Cover von "Hour Of The Dawn" ist ihr Gesicht vor lauter Haaren nicht zu sehen, doch sie trägt ein Poison-Idea-Shirt, man sollte ihr vertrauen. Katy Goodman, früher ein Vivian Girl, hat bereits zwei bittersüße Trennungsalben veröffentlicht, "La Sera" und "Sees The Light". Nun besingt sie die Freuden, aber auch die Mühseligkeiten der Jugend: "How about you have another drink/ So you can pass out in the backseat of my car/ Another night I'll have to slap you across the face/ So you don't sleep there, oh what a star/ What a pain it must be to have to only be with me."
Goodmans neue Band dengelt sich famos durch zehn Schraddel-Pop-Stücke, die allesamt vermuten lassen, dass Katy folgende Künstler liebt: The Pretenders, Blondie, Go Go's, The Bangles, Talulah Gosh, Dinosaur Jr. und The Cars. Goodmans Texte mögen auf den ersten Blick simpel wirken, doch sie haben auch die Tiefe universeller Gefühle: Manchmal sieht man das Mädchen an verlassenen Plätzen stehen, fast so, als hätte man "Dazed And Confused" oder "The Last Picture Show" nach dem Ende noch weiter gedreht. Vor allem erzählt "Hour Of The Dawn" aber davon, Entscheidungen zu treffen, die schlafenden Hunde nicht mehr zu wecken, den großen Aufbruch zu versuchen. "Every boy and girl here has gone away/ Watch the cars go by and kiss this town away." Weil auch die nächste Stadt wieder ihre Stadt sein wird. (7.3) Jan Wigger
Wertung: Von "0" (absolutes Desaster) bis "10" (absoluter Klassiker)
