Neues Adrià-Buch Schwingen Sie die Chemiekeule!
Manchen Musikjournalisten gilt das Hören einer CD vor dem Verfassen der Kritik ja als Ablenkung vom Wesentlichen. So ähnlich verhält es sich mit den Meinungen zu Ferran Adriàs Kochkunst - in über 90 Prozent der Fälle sind sie von keinerlei persönlich erlebten Eindrücken getrübt.
Denn im "El Bulli" , nach 2002, 2006 und 2008 nun schon zum vierten Mal vom britischen Fachblatt "Restaurant Magazine" als "Bestes Restaurant der Welt" gekürt, hat kaum einer gegessen: Für die gerade mal 8000 Gourmets, die jährlich bewirtet werden können (50 Personen täglich an 160 Saisontagen), gehen etwa zwei Millionen Reservierungsanfragen ein.
Wer dennoch einen Platz ergattert hat (200 Euro pro Menü, Weinkarte mit 1600 Positionen), für den arbeiten in Küche und Service 60 bis 70 Angestellte. Und sie komponieren und kredenzen ihm 28 bis 35 kleine Gerichte, wo nötig angepasst an die stets vorher abgefragten Ernährungs- und Gesundheits-Spezifika des Gastes.
Adrià, seit 1997 ohne Unterbrechung mit drei "Michelin"-Sternen ausgezeichnet, hat längst die klassische Menü-Speisefolge abgeschafft, stattdessen teilt er das Abendmahl in Cocktails, Snacks, Tapas-Gerichte (die eigentlichen "Hauptspeisen"), Avant-Desserts (Übergänge von der herzhaften zur süßen Welt wie Mango-Ravioli-Kugeln oder Süßkartoffelpüree mit Vanille), Desserts und Morphings (sehr eigenwillige petit-fou-Varianten).
Nachzulesen ist das alles und noch viel mehr in dem prächtigen, sauschweren Wälzer "Ein Tag im El Bulli". Das Werk will mit seinen 31 zum Teil auch für den Profi kaum nachkochbaren Rezepten kein Kochbuch sein, gehört aber trotzdem in das Regal eines jeden Kochschaffenden, für den Nahrungszubereitung mehr ist als nur erlerntes oder intuitiv reproduziertes Rühren, Braten und Köcheln.
Denn Adrià verrät hier mit 1100 Fotos und etlichen Textseiten den kompletten Jahres- und Tagesablauf seines Projektes, das er mit Dutzenden Mitarbeitern auch in der Zeit, in der das Restaurant geschlossen ist (November bis April), in zwei hochtechnisierten Versuchsküchen ständig weiterentwickelt. So erfährt der Leser, wie akribisch Adriàs Team Zutaten, Garmethoden und Technologien kategorisiert und katalogisiert.
Dass die Sinne der Fokus einer jeden Überlegung in der Küche sein müssen: Diese Aussage wird wahrscheinlich jeder Koch bejahen, ob Profi oder ambitionierter Amateur. Doch nur wenige machen sich derart strukturiert und allumfassend Gedanken zu diesem Thema wie das Adrià-Team: zum Beispiel darüber, wie das Knuspern von Karamell oder Chips die Wahrnehmung des Essens beeinflusst.
Auch den Geruchssinn spricht das Team gezielt an, etwa mit Hilfe eigens entwickelter Löffel-Konstruktionen mit teilweise konträren Aromen. Bei "Orangen-Nitro-Sorbet mit Ballon" entweicht während des Essens aus einem Ballon langsam Luft, die mit Orangenblütenöl aromatisiert wurde.
Zu fühlen gibt es während eines Menüs im "El Bulli" natürlich ebenfalls jede Menge, denn das Team reizt nicht nur das gesamte Spektrum zwischen knusprig und weich voll aus - sondern auch den gesamten Temperaturbereich, der dem Mund zumutbar ist (- 20 Grad bis + 65 Grad).
Folgendes Rezept wäre für das "El Bulli" sicher zu simpel, folgt aber der Antriebskraft Adriàs: Neugier. Warum etwa muss bei Schinkenspargelröllchen immer der Schinken außen und der Spargel innen sein?
Es gibt viel zu tun. Drehen wir's um.
Buchhinweis:
Ferran Adrià: "Ein Tag im elBulli". Phaidon-Verlag, Berlin; 528 Seiten; 31 Rezepte; 49,95 Euro (ISBN: 978-0714858951)
Rezept für Invertierte Schinken-Spargel-Röllchen (Vorspeise für 4 Personen)
Vorbereitungszeit: 2 Stunden
Zubereitungszeit: 60 Minuten
Schwierigkeitsgrad: schwer
Zutaten
Schinken-Spargel-Röllchen
6 Stück Spargelstangen, möglichst dick
1 El Salz
2 El Zucker
4 El Weinessig (milde Sorte, kein Balsamico)
2 Blatt Gelatine
1,7 g Agar (Agar-Agar, E406 www.die-molekularkueche.de )
300 g Katenschinken (oder andere roh geräucherte, weiche Schinkensorte)
250 ml Portwein, rot
100 ml Sahne
1 Prise Pfeffer
2 g Xanthan (z.B. bei Molekularküche )
Spargelgelee und Dekoration
5 Scheiben Parmaschinken, Schnittstärke nicht zu dünn, die Scheiben müssen zusammenhalten
0,6 g Gellan E418 (www.die-molekularkueche.de)
Wildsalat und Pfeffer-Vinaigrette
250 g Wildsalat, gemischt, nach Saison
0,5 Stück Schalotte
2 Tl Pfeffersenf von der niederländischen Senfmühle De Wijndragers
1 Tl Pfeffer, grün, eingelegt
1 Tl Estragonspitzen, frisch, fein gehackt
1 Stück Radieschen
2 El Sherryessig
4 El Haselnussöl von Berinoix
Zubereitung: Schinken-Spargel-Röllchen
Spargelstangen waschen, an den Enden 3 cm abschneiden, sorgfältig schälen, 1 Stange in sehr feine Scheiben schneiden. Diese Scheiben mit den Schalen und den Abschnitten in 2 l Wasser mit dem Zucker, Salz und Essig 15 Min. leise köcheln lassen. Durch Sieb schütten, Kochflüssigkeit in den Topf zurück geben, Siebinhalt wegwerfen.
Geschälte Stangen auf scharfem Küchenhobel in feine Streifen hobeln (siehe Foto). Spargelwasser sprudelnd aufkochen, Spargelscheiben darin 3 Min. blanchieren, mit Siebkelle herausnehmen und in Eiswasser abschrecken. Spargelflüssigkeit auf 1000 ml einkochen, mehrfach erst durch feines Sieb schütten und am Ende durch Passiertuch tropfen lassen. Die Flüssigkeit sollte danach fast klar sein.
Kaltes Backblech erst mit Backpapier, dann mit zwei an den Rändern überlappenden Bahnen Küchenfolie auslegen. Spargelstreifen nebeneinander auflegen, dabei Ränder leicht überlappen lassen, die Kopfseite abwechselnd legen. Wenn die Breite des Bleches mit diesem Spargelteppich ausgelegt ist, die oberen und unteren Ränder mit einer Lage Scheiben so abschließen, dass gerade Kanten entstehen.
Von dem geklärten Spargelwasser 250 ml abnehmen, aufheben. Gelatine in kaltem Wasser einweichen. Rest der Spargelbrühe aufkochen, vom Herd nehmen und mit Schneebesen die ausgedrückte Gelatine und das Agarpulver einrühren. Es dürfen keine Klümpchen bleiben. Flüssigkeit etwas abkühlen lassen (ca. 60 Grad). Die Hälfte der Flüssigkeit gleichmäßig über die Spargelmatte fließen lassen, Backblech kühl stellen, Rest der Flüssigkeit warm halten. Nach ca. 15 Min. sollte die obere Seite der Spargelmatte geliert sein. An der Folie anfassen und vom Blech heben, auf Silpatmatte oder das Backpapier auf dem Blech vorsichtig stürzen, Folie entfernen, Rest der Flüssigkeit gleichmäßig über den Spargel verteilen, kalt stellen und 30 Min. gelieren lassen. Durch die Verwendung der Spargelkochflüssigkeit für das Gelee bleibt dem Essen auch der Aroma-Anteil des Spargels erhalten, der sonst mit der Kochbrühe weggeschüttet, oder allenfalls für Spargelsuppe eingesetzt wird.
Katenschinken von allen sichtbaren Fettanteilen befreien, sehr fein würfeln. Im Portwein bei niedriger Temperatur ca. 30 Min. dünsten. In hohem Gefäß mit Messeraufsatz des Schneidstabes (oder im Mixer) sehr fein pürieren, eiskalte Sahne mit einschlagen, mit Pfeffer abschmecken. Am Ende das Xanthan ca. 2 Min. einmixen. Die Masse ("Espesante") auf einen flachen Teller streichen, 30 Min. im Kühlschrank fest werden lassen.
Espesante mit Konditorpalette auf die Spargelmatte streichen, dabei das obere Viertel (Längskante) frei lassen. Matte (evtl. mit Hilfe einer Sushi-Bambusmatte) straff zu einer ca. 3-4 cm dicken Rolle formen. Rollen-Enden mit scharfem Messer (mit möglichst dünner Klinge, die vorher in heißes Wasser getaucht wird) gerade abschneiden, Rollen in vier gleich große Teile schneiden.
Spargelgelee und Dekoration
Backblech mit Backpapier und darauf zwei Lagen Küchenkrepp belegen, Parmaschinkenscheiben nebeneinander auflegen, mit zwei Lagen Krepp abdecken, mit zweitem Blech beschweren. Bei ca. 75 Grad im Backofen ca. 2 Stunden trocknen. Krepp entfernen und die Scheiben bei ca. 65 Grad Heißluft offen auf Backpapier zu Ende trocknen.
Rest der Spargelflüssigkeit aufkochen, das Gellan sorgfältig einrühren, Flüssigkeit in ein mit Küchenfolie ausgelegtes quadratisches Gefäß gießen, 1 Stunde im Kühlschrank gelieren lassen. Das Gellan sorgt für ein festes, besonders schnittfestes Gelee.
Gelee stürzen und mit scharfem, dünnen Messer in gleichmäßige Würfel schneiden.
Wildsalat
Salat gut waschen, vollständig trocken schleudern. Vinaigrette: Schalottenhälfte, Pfeffer und das Radieschen sehr fein hacken. Senf mit dem Öl anrühren und emulgieren, danach die restlichen Zutaten unterrühren. Unmittelbar vor dem Servieren den Salat in der Vinaigrette schwenken.
Anrichten
Vier sehr große Teller mittig mit dem angemachten Salat belegen, in der Mitte jeweils etwas Platz für das Röllchen lassen. Spargelröllchen mit Hilfe einer Anrichtpalette vorsichtig auf die Tellermitten heben, mit den Geleewürfeln und den Parma-Chips ausdekorieren.
Küchen-Klang
Ein derart komplexes Rezept beschallt man am besten antizyklisch, zum Beispiel mit den ruhig-warmherzigen Songs auf "Roadsinger" (Island/Universal Music) von Yusuf, den Babyboomer in den siebziger Jahren schon unter seinem alten Namen Cat Stevens zu Mutters Schinkenspargelröllchen gehört haben.
Getränketipp
Zum Spargel empfiehlt sich ohnehin ein strammer, alkoholarmer Weißwein, doch bei dieser Zubereitung mit dem eher weich-schmeichelnden Mundgefühl kann man getrost noch einen drauf setzen und einen Jungen Wilden aufschrauben wie den 2007er Weingut Johann Topf Grüner Veltliner 'Strassertal' - ein rassig-grüner Österreicher mit spritziger Säure und moderaten 11,5 Prozent Alkohol.