Bürgerprotest "Nuit Debout" Plötzlich war die Wut da

Sie stehen dort, wo die Demokratie ihren Platz hat, auf der Straße, vor dem Parlament, im Regen, und vor ihnen haben sich Reihen von Polizisten aufgebaut, die aussehen wie aus einem Schwarzenegger-Film, schwere Schulterpolster und Schlagstöcke und das Tränengasspray einsatzbereit in der Hand.
Die Demonstranten sind jung und unrasiert, die Frauen tragen runde Brillen, der Rauch der Leuchtraketen umweht sie. Einige von ihnen haben Aufkleber auf dem Rücken, auf denen "Rêve général" steht, ein Wortspiel - nicht Generalstreik ist gemeint, grève, sondern der Generaltraum, der gemeinsame Traum, der Traum, der alle verbinden soll.
Sie sind hier, um gegen das Arbeitsgesetz der Regierung Hollande zu demonstrieren, das sie als Verrat empfinden, so wie sie im Grunde alles, was der Präsident seit vier Jahren macht, als Verrat empfinden. Es ist der Abend des 71. März. So geht ihre revolutionäre Zeitrechnung. Seit dem 31. März treffen sie sich jeden Abend an der Place de la République. Sie sind Nuit Debout, so heißt die Bewegung, aufrecht durch die Nacht, es klingt irgendwie geheimnisvoll, es klingt vielversprechend und französisch und frei.

Es ist für Frankreich das, was 2011 Occupy Wall Street für die USA war und die Indignados für Spanien und die Bewegung der empörten Bürger für Griechenland waren - und in diesen Tagen entscheidet sich, was aus Nuit Debout wird, eine Fußnote der paneuropäischen Unzufriedenheit oder mehr.
Angefangen hat alles mit diesem Film: "Merci, Patron!", ein Dokumentarfilm im Stil von Michael Moore, der zeigt, wie ein paar einfache französische Angestellte mithilfe eines Journalisten den Milliardär Bernard Arnault austricksen.
Der Kapitalist gegen das Volk also: Arnault gehört unter anderem Louis Vuitton und Christian Dior, der Film erzählt, wie er Tausende Angestellte entlässt, bevor er aus Steuergründen seinen Wohnsitz nach Belgien verlegt. Täter und Opfer der Globalisierung.
Die Wut war da, der Anlass war da, das Arbeitsgesetz, und seit der großen Demonstration am 31. März treffen sich alle, die wollen, an der Place de la République und diskutieren. Abend für Abend, Nacht für Nacht, mal ein paar hundert bei Regen, mal einige tausend, wenn etwa 300 Musiker, die sich nicht kennen, die Symphonie von der Neuen Welt von Dvorcak spielen.

"Da habe ich richtig Gänsehaut bekommen", sagt Manu Witvoet, 33, der noch nie gewählt hat, nie demonstriert hat und von den ersten Tagen an dabei ist. Er hat eine kleine Firma, ein digitales Start-up, er kümmert sich um die Webseite, die ihr alternatives Nachrichtenmedium ist, denn sie misstrauen der Presse, die sie für Teil des Problems halten.
Manu Witvoet ist blass, er arbeitet bis spät nachts für Nuit Debout, weil er auf einmal einen Sinn sieht: "Ich hatte keinen Ort", sagt er, "hier kann man wirklich diskutieren. Wo geht das überhaupt noch, dass man miteinander ins Gespräch kommt? Es ist doch immer und überall ein Filter dazwischen."
Zwei Gruppen, sagt er, gibt es auf dem Platz, in der Bewegung: die Veteranen des Protestes, Gewerkschafter vor allem, die manche als Teil eines typisch französischen Immobilismus sehen, jener Beharrungskräfte, die Reformen wie die von Gerhard Schröder Anfang der Nullerjahre bislang verhindert haben.
Und dann gibt es die wie Manu Witvoet, den es immer gestört hat, wie politisiert die Proteste waren, wenn die mächtigen Gewerkschaften mit dabei waren. "Meine Generation hat sich eigentlich aus der Politik zurückgezogen, es schien eh alles egal" - jetzt sind sie wieder da, viele Akademiker Anfang 30, ohne Job oder in prekären Verhältnissen, eine enttäuschte bürgerliche Masse.

Für sie wollte François Hollande eigentlich Politik machen, und man kann Nuit Debout nicht verstehen, wenn man nicht versteht, wie stark das Gefühl hier ist, von einem linken Präsidenten im Stich gelassen worden zu sein, der mit linken Versprechen Wahlkampf machte und dafür gewählt wurde - und dann etwa nach den Anschlägen vom vergangenen November Terroristen die Staatsbürgerschaft entziehen wollte.
"Ich war schockiert", sagt Witvoet, "ich bin immer noch schockiert." Seit den Anschlägen herrscht in Frankreich der Ausnahmezustand, und auch damit hat Nuit Debout zu tun, mit diesem Gefühl, dass der Staat immer härter und immer militärischer auftritt - im Internet finden sich die Bilder der Verletzten nach den Polizeieinsätzen, auf Periscope, der Video-App, über die die Demonstranten viel kommunizieren, finden sich Filme.
Es ist diese digitale Generation, die in diesen Tagen einen neuen Politisierungsschub erlebt: Wo sie bislang aber eher abstrakt und durch Online-Petitionen aktiv waren, sind sie nun konkret, physisch, live auf dem Platz, begeistert von sich, von der Atmosphäre, der Offenheit, der Solidarität, der direkten Aktion, wie es Manu Witvoet beschreibt: "Wenn jemand auf dem Platz sagt, da oder da in Paris werden gerade Flüchtlinge von der Polizei eingekesselt, dann stehen 300 Leute auf und gehen gemeinsam los und helfen den Flüchtlingen."
Er habe, sagt Witvoet, ein Gefühl von Macht, von Einfluss zurückgewonnen, etwas, das er vor langer Zeit verloren hatte. Sie reden, sie singen, sie diskutieren, sie arbeiten in Kommissionen, Arbeitsgruppen, die sich mit Fragen beschäftigen wie einer neuen Verfassung, Frauenrechten und welche Souveränität diese sich dauernd verändernde Versammlung überhaupt hat.
Es ist die direkte Demokratie, die sie hier üben, weil sie von der repräsentativen Demokratie so sehr enttäuscht sind. Sie wollen horizontale Entscheidungen, nicht vertikale, einen breiten Konsens also - "klar dauert das länger", sagt Witvoet, "aber es ist auch gut, nicht alles an der Effizienz zu messen."
Was also kann diese Bewegung bewirken? Es sind die gleichen Fragen, es sind die gleichen Antworten, es sind die gleichen Probleme wie bei Occupy Wall Street. Was haben sie bewirkt? 2012 hieß es, sie seien gescheitert. 2016 gibt es einen Präsidentschaftskandidaten wie Bernie Sanders, der spricht und denkt wie sie und sie begeistert.
Nuit Debout ist keine Massenbewegung und wird es wohl auch nicht werden, selbst wenn die Proteste gegen das Arbeitsgesetz noch länger und härter werden. Sie wollen etwas anderes hier. Sie wollen den demokratischen Diskurs von Grund auf neu konstruieren. Sie haben, auch das ist wie bei Occupy Wall Street, explizit "keine Forderungen".
Es war der Ökonom Frédéric Lordon, einer der Antreiber von Nuit Debout, der das in einem Grundsatztext von Anfang an klargemacht hat. Er ist älter als die meisten der Leute auf dem Platz, er will verbinden, was zusammengehört: "Wir sind an einem Punkt der Geschichte", schrieb er, "wo wir merken, dass Gruppen, die normalerweise getrennt sind, sehr viel mehr vereint, als sie denken."
Die Eliten "in Schrecken versetzen", das ist sein Plan, "wir bringen keinen Frieden", so fasst er seine Position zusammen. Die Lage ist außergewöhnlich, so scheint es, und jemand wie der Philosoph Patrice Maniglier sieht es ähnlich. Maniglier, einer der Herausgeber der prestigereichen Zeitschrift "Les temps modernes", spricht davon, dass es seit 1968 keine vergleichbare politische Bewegung mehr in Frankreich gegeben hat.
"Und das ist wichtig zu verstehen", sagt er. "Nuit Debout ist keine soziale Bewegung, die sich etwa mit Arbeiterrechten oder Frauenrechten oder der Ehe für alle beschäftigt. Wir erleben gerade eine tiefe Legitimationskrise der Demokratie. Darauf ist Nuit Debout die Antwort."
Ein grundsätzliches Versagen der Eliten also, so beschreibt es Maniglier, eine Demokratie "en panne", wie es sich in vielen westlichen Ländern beobachten lässt. Die Krise scheint akut und gefährlich, die Entfremdung ist grundsätzlich, die Angriffe auf das System kommen meistens von rechts, AfD, FPÖ - und Nuit Debout ist der Versuch einer linken Lösung.
"Es wird keinen Sturm auf den Winterpalast geben wie bei der Oktoberrevolution 1917", sagt Maniglier, der versucht, jeden Abend an der Place de la République zu sein. "Aber wir werden da bleiben, wir werden auf der Straße bleiben, es ist wichtig, physisch präsent zu sein", sagt er und zupft sich am Hemd - der Körper, soll das heißen, ist die Demokratie.
Aber es gibt auch Kritik aus dem eigenen Lager. Geoffroy de Lagasnerie zum Beispiel, einer der Jungstars der französischen Philosophie, er hat gerade bei Suhrkamp ein Buch über "Die Kunst der Revolte" veröffentlicht, und für "Le Monde" hat er einen Text geschrieben, in dem er Nuit Debout kritisiert, von links.

"Die Vorstellung eines gemeinsamen Kampfes ist eine Fiktion", sagt er. "Es gibt nur spezifische Kämpfe, und so hat Nuit Debout ja auch begonnen, als Kampf gegen das Arbeitsgesetz. Aber jetzt höre ich immer wieder Worte wie Gemeinschaft, Konsens, Volkswille. Das sind alte Worte, das ist altes Denken, das ist das Denken der Homogenität, wie es auch die Rechten propagieren."
De Lagasnerie sieht die Gefahr, dass Nuit Debout sich gerade selbst zum Scheitern verurteilt. Wer keine Forderungen stellt, wird nichts erreichen, meint er. Linke Politik müsse immer oppositionell sein, müsse den Bruch der Ordnung suchen - nur so könne man das Neue schaffen, nur so könne man die Demokratie neu erfinden.
Selbst der Platz als Ort und Anfang der Demokratie ist für ihn eine romantische Verklärung. Es gebe genug konkrete Anlässe zu protestieren - Nuit Debout, sagt er, sei in seinem abstrakten Pathos "die Beerdigung der Politik".
Am Sonntag, dem 15. Mai, wird de Lagasnerie auf dem Platz mit den Demonstranten diskutieren. Es ist ein wichtiges symbolisches Datum, der fünfte Jahrestag des Beginns der Proteste in Spanien. Die Indignados, die inzwischen durch Podemos zu einer echten politischen Kraft geworden sind, waren auch bei Nuit Debout am Anfang dabei. Das ist es, was Lagasnerie als einzigen möglichen Weg sieht, als das wünschenswerte Ergebnis dieser Bewegung: Neue Figuren, die neue Politik machen.
Die Situation vor der Assemblée Nationale hat sich inzwischen verlagert. Es ist kurz nach zehn Uhr abends, etwa hundert Demonstranten sind von der Polizei vor dem Musée d'Orsay eingekesselt. Nach und nach werden sie zur Metro gebracht. Ein Polizist bekreuzigt sich. Eine Demonstrantin kippt sich aus einer kleinen Flasche ein paar Tropfen in die Augen, wegen des Tränengases.
Die letzten bleiben auf der Treppe stehen. Sie filmen die Polizisten, sie filmen sich gegenseitig, sie stellen alles ins Netz, weil dort die symbolischen Kämpfe stattfinden. Sie sind Repräsentanten, unklar ist nur, wovon genau und von wie vielen.
Es ist Frühling in Paris. Der Regen hat aufgehört. Sie werden morgen wiederkommen.