
"Ödipus, Tyrann": Tanz mit der Tragödie
Ödipus-Premiere in Hamburg Der mit dem Schicksal tanzt
Der Mann ist kaputt. Geschlagen mit Schicksal und körperlichen Gebrechen, nur Laute formen sich aus seinem Mund, der aufrechte Gang gelingt ihm nur mühsam: Dieser König Ödipus muss sich den Auftritt erkämpfen wie ein Kind, das Leben lernt - ein Leben voller Fallstricke und Schuld. Der durchaus kraftvolle Bernd Grawert spielt diesen antiken Riesen als gequälten Herrscher von Theben, der beinahe die ganze Bühne des Hamburger Thalia Theaters erkriechen muss, bevor ihn seine Frau Iokaste in die Arme schließt. Auch das nur eine scheinbare Erlösung. Der ganze Schmerz des Ödipus ist in diesem ersten Auftritt zu sehen: Von Beginn an ist klar, dass diese Inszenierung in der richtigen Spur fährt.
Die Geschichte des Ödipus ist so bekannt, wie ein Klassiker nur sein kann: Der Mann, der nach Götterfluch und Weissagung seinen Vater töten und die Mutter heiraten sollte, blieb nach Sophokles' antiker Urtragödie bis heute Stoff für Dichtung und Analyse. Die neue Hamburger Inszenierung vom Regie-Granden Dimiter Gotscheff stützt sich jedoch nicht allein auf die Hölderlin-Übersetzung des klassischen Stoffes, sondern auf dessen Bearbeitung von Heiner Müller. Diese kam erstmals 1967 am Ost-Berliner Deutschen Theater auf die Bühne. Schon zu dieser Zeit war Müller bei den DDR-Theaterbürokraten wenig beliebt, trotz seines dialektisch-materialistischem Ödipus-Ansatzes: Weniger göttergewebtes Schicksal zählte für Müller als vielmehr die Bedingungen von Handeln und Herrschen, die die Person bestimmen. "Ödipus, Tyrann" lautete dann auch der programmatische Titel, ganz klassisch wieder wie bei Sophokles.
Rhythmus des Schicksals
Die Analyse des Ödipus-Traumas ist das Zentrum des Dramas, und Dimiter Gotscheff verpasst dieser Kriminalhandlung ein poetisch-musikalisches Gewand. Von Beginn an lässt er seinen Hauptakteur Bernd Grawert in den Zeilen und Worten förmlich baden, seine Bewegungen umkreisen, liebkosen den Text beinahe, auch wenn er nichts versteht oder nur hilflos Wort für Wort seine ihm unbekannte, fluchbeladene Lebensgeschichte entdeckt. Die durchbohrten, verletzten Füße (Ödipus heißt auf Griechisch "Schwellfuß"), die ihn einst nach seiner Verbannung als Kind an der Rückkehr zu den Eltern hindern sollten, prägen symbolisch sein Wesen: Bei Gotscheff trommelt Ödipus damit seinen Herzschlag auf die Bühne, ziellos nervös, aber doch unerbittlich und drohend: Der Rhythmus des Schicksals, nach dem der Tyrann tanzt. Später, wenn die Erkenntnis dämmert, scheint sich Ödipus über sein Schicksal zu erheben und tanzt buchstäblich weiter nach diesem inneren, schlichten Rhythmus, mit ausgebreiteten Armen und wilden Drehungen - ein makaberer Todes-Sirtaki voller Verzweiflung.
Der Chor, wichtig und kommentierend in der griechischen Tragödie, trägt in Gotscheffs Inszenierung zunächst schwer an seiner Rolle: Sprachlos, dafür in wilder Bewegung, ist er auf der Suche nach Worten, die er zunächst nur in amorphen Klangstrukturen findet, aus denen sich nach und nach Bedeutung schält - eine Vorausdeutung kommender Enthüllungen. Oder auch ein Abbild von Ödipus' Unterbewusstsein. Die Chorführerin Patrycia Ziolkowska (sie spricht auch den Priester) erfindet mit tänzerischer Grazie und sprachlicher Wandlungsfähigkeit ihre Rolle sehr eigenwillig. Unter ihrer Führung wird der Chor stellenweise zum Ballett, und durch diese gewaltige Bewegungsenergie macht die Inszenierung mühelos die karge Bühne wett. Die Handlung wird buchstäblich erspielt, keine Kulisse dämmt diesen Strudel ein. Lediglich ein riesengroßes, gelbes Bündel schwebt mit drohender Bewegung über die Szenerie - wohl ein ironischer Damokles-Sack, das vermeintliche Schicksal, das aber keine explizite Wirkung hat.
Verwundet, nicht erlöst
Je näher Ödipus der Wahrheit um seine Herkunft und seine Handlungen kommt, umso mehr nähert er sich auch physisch dem übrigen Bühnenpersonal: Iokaste, seiner Frau und Mutter, dem Bruder Kreon, dem berufsmäßigen Propheten Teiresias, der sich mit seinen Weissagungen zunächst diplomatisch aus der ganzen schlimmen Affäre heraushalten möchte. Die Sprache wird parallel dazu immer zeitgenössischer, sachlicher, kälter. Der Bericht der Magd, wie Iokaste gespielt von der großartigen Karin Neuhäuser, erzählt knapp und klar von der bekanntgewordenen Erfüllung des Fluchs, von Iokastes Selbstmord und Ödipus' eigenhändiger Zerstörung seines Augenlichts. Ein Report aus der Sicht der Unterschicht: Kein Schicksalsschwang, sondern Nüchternheit eines Polizeiberichts.
Am Ende rollt der blinde Ödipus wie am Anfang hilflos über die Bühne, die Erkenntnis seiner Schuld und seiner Geschichte hat tief verwundet, aber nicht befreit. Nicht einmal sterben darf er, auf ihn wartet die Verbannung, die Sophokles ebenfalls bedichtet hat ("Ödipus auf Kolonos").
Viel Beifall gab es fürs Thalia Ensemble (fulminant Bibiana Beglau in drei Rollen) und das Regieteam um Dimiter Gotscheff, das dem archaischem Text große poetische und sinnliche Momente abgerungen hat.