Archaischer Ritus Ostern auf die ganz harte Tour

Feuerwerkskörper explodieren über dem traditionellen Osterfeuer (Archivbild)
Foto: Julian Stratenschulte/ DPADunkelheit, als wäre das Mittelalter nie zu Ende gegangen. Licht, als stünden die Tore zur Hölle weit offen. Und endlich ein Lärm so infernalisch und brutal, als würden diese Tore plötzlich weit aufgetreten, mit Macht und von Innen: Wer der archaischen Wucht von Ostern teilhaftig werden will, sollte die Hallenberger Osternacht besuchen. Wobei man dieses einzigartige Ereignis nicht wirklich "besuchen" kann. Wer ihm beiwohnt, der liefert sich ihm aus. Und erlebt sein blaues Wunder.
Ansonsten ist Ostern in Deutschland ein abgekartetes Spielchen. Wir leben 2019, nicht 1519. Das Mittelalter, so wie es einmal im Jahr im kleinen Hallenberg wieder präsent ist, erscheint fern. Wenn wir überhaupt noch religiöse Sitten und Gebräuche praktizieren, dann aus Respekt vor der Gemeinschaft und ihren Traditionen. Wahlweise spielen wir unseren Kindern etwas vor, um deren Glauben nicht zu enttäuschen - während die Kinder mitspielen, um an die Süßigkeiten zu kommen.
Von einer Christlichkeit unseres Abendlandes kann nicht ernsthaft die Rede mehr sein. Sein Untergang erscheint nicht katastrophal, sondern niedlich, fast putzig. Er lässt sich nicht an der Anzahl der Minarette in unseren Städten ablesen - sondern an der Anzahl der Osterhasen in den Supermärkten. Das ist die infantile Schwundstufe, auf die das heiligste Fest der Christenheit inzwischen zusammengeschnurrt ist. Alberne Skulpturen aus Vollmilchschokolade in Zellophan, mit roten Schleifchen um den Hals und Klingelglöckchen dran.
Ist das Tanzverbot am Karfreitag zeitgemäß?
Konservative Gläubige mögen das bedauern, progressive Atheisten begrüßen. So wurde im gegenwärtigen Kulturkampf zuletzt ein kleineres Scharmützel um die Frage ausgetragen, ob öffentliche Tanzverbote an Karfreitag noch zeitgemäß ist. Eine wahnsinnig rückständige Minderheit möchte der Mehrheit gerne ihren Glauben - und ihre Glocken - vorspielen. Eine irrsinnig aufgeklärte Mehrheit in den Metropolen aber, sonst um den Schutz keiner Minderheit verlegen, möchte nicht mitspielen.

Bemalte Ostereier zum Verkauf (Archivbild)
Foto: Hans Punz / DPADie Tradition pflegt heimatliche Sitten und Gebräuche, weil "man" das schon immer so gemacht hat, weil alle das gefälligst auch künftig so machen sollten. Die Moderne bestreitet das "man" und findet an gewissen Sitten und Gebräuchen nur insofern Gefallen, als sie von bedrohten Völkchen im Becken des Amazonas oder an den Quellen des Nil gepflegt werden.
In Deutschland findet man dergleichen kaum mehr. Nicht in globalisierten Städten, nicht auf dem abgehängten Land. Wenn überhaupt, dann halten sich echte Kulthandlungen in den entlegenen Faltenwürfen der Mittelgebirge; das sind diese lustigen geologischen Erhebungen, die von jeder Autobahn weiträumig umfahren werden, von Google Maps längst flächendeckend eingeebnet sind.
Womit wir wieder in Hallenberg wären.
Der Ort liegt südlich von Winterberg im Hochsauerland. Keine fünftausend Einwohner. Gegründet 1264, besiedelt vermutlich schon viel länger. Westfälisches Fachwerk, viel Schiefer aus eigenem Steinbruch. Verarbeitet wird Stahl zu Felgen und Türklinken, Holz zu Möbeln. Im Winter kommen Wintersportler. Bis zur nächsten nennenswerten Stadt, wenn Kassel nennenswert ist, dauert es mit dem Auto eine Stunde.
Idyllisch, aber aus katholischer Sicht ein Außenposten sein Jahrhunderten, erst von Köln, heute vom Erzbistum Paderborn. Festung des Glaubens gegen den protestantischen Süden. Hier ist Ostern eine ernste Angelegenheit.
Die Kirche macht den Laden zu
Es geht schon damit los, dass nach dem Hochamt zu Gründonnerstag der Tabernakel nicht geschlossen, sondern ausgeräumt wird. Die Glocken, sonst Taktgeber für den Alltag, sind angeblich "auf dem Weg nach Rom". Sie schweigen. Die Kirche macht den Laden zu.
Wo andernorts die Stille verteidigt wird, ist am Karfreitag in Hallenberg bereits das Knarren von Ratschen zu hören, immer wieder, als Ersatz für das Geläut zur vollen Stunde. Am Abend wird, einen Tag bevor es alle anderen Gemeinden tun, auf einem Hügel über dem Ort das Osterfeuer abgebrannt. Denn der Samstag gehört der Osternacht, dem eigentlichen Schauspiel.
Auf dem Platz vor der Kirche haben sich "die Burschen" um riesige Kreuze versammelt, mit kugeligen Lampions orange beleuchtet. Neben Fackeln sind diese Kreuze die einzigen Lichtquellen, wenn kurz vor Mitternacht die Straßenbeleuchtung abgeschaltet wird. Nach dem letzten Schlag der Turmuhr intoniert der Chor ein barockes Passionslied: "Vom Haupt bis zu den Füßen ist Jesus ganz zerfetzt, am ganzen Leib zerrissen, kein Glied ist unverletzt."
Ein gefährlicher, ein urwüchsiger Glaube
Es ist ein urwüchsigerer Glaube, als er sonntags im Radio gepredigt wird. Bis hierhin ist der gespenstische Hokuspokus zu besichtigen, den ein gestrenger Katholizismus einst zu entfesseln vermochte. Erst danach wird es wirklich interessant und in Umrissen das Namenlose und Ältere sichtbar, auf das die Kirche sich nur geschwungen hat wie ein Reiter auf sein Pferd.
Denn danach wird es laut.
Wobei Lärm kein Ausdruck ist für die sinfonische Kakophonie, die nun losbricht. Ein Heulen und Prasseln und Kreischen, dessen einzelne Bestandteile kaum mehr unterscheidbar sind. Es ist, als erklängen alle Bedrückungen der Vergangenheit auf einen Schlag. Als spielten Slayer, Motörhead und die Noise-Band Sunn O))) gleichzeitig, während ein Düsenjäger den Nachbrenner vorwärmt.
Da sind, neben den Rasseln und Klappern, eine Handsirene aus dem Zweiten Weltkrieg, ein Nachtwächterhorn, und eine Landsknechttrommel aus dem Dreißigjährigen Krieg gibt den delirierenden Dirigenten, abwechselnd bearbeitet von der wehrfähigen Jugend. Auf Eisenrädern rollen Handwagen daher, wie einem "Steam Punk"-Alptraum entsprungen, deren einziger Zweck das Erzeugen von noch mehr Lärm ist. Maschinen, nur mit Muskelkraft betrieben und bis zur völligen Erschöpfung malträtiert.
Bär, Wolf, Zombies
Die aberwitzige Lautstärke und der ernste Habitus dieser finsteren Prozession sind furchterregend. Sie sind es nach innen, im Dorf selbst. Und sie sind es nach außen, wo in der Dunkelheit des Waldes alles Erdenkliche lauern kann. Der Bär, der Wolf, die Schweden, Zombies, die Weißen Wanderer aus "Game of Thrones", Dämonen, das Böse schlechthin - und immer auch die eigenen Abgründe, in gemeinschaftlicher Anstrengung nach draußen projiziert. Von den nächtlichen Hügel oberhalb muss es wirken, als krieche ein kreischender Lindwurm mit roten Augen durch den Ort.
Niemand weiß, wie alt genau der Kult um den Krach ist, welches Trauma ihn einst ins Leben gerufen hat. Evident ist, dass das Völkchen dort die Tradition der akustischen Selbstgeißelung seit Jahrhunderten am Leben hält. Sie verbreitet Schrecken und erfreut sich an der eigenen Angstlust. Sie schließt aus und zugleich ein. Sie stiftet Gemeinschaft und Identität auf eine Weise, von denen unsere modernen Gesellschaften nichts mehr wissen wollen.
Die Hallenberger Osternacht ist etwas, das es eigentlich nicht mehr geben dürfte. Ein sozialer Mechanismus aus archaischer Zeit, der offenbar noch funktioniert - und sich allein wegen seines Alters jeder politisierenden Beurteilung entzieht. Eine Inschutznahme als "immaterielles Kulturerbe" hat dieser Kult gar nicht nötig. Er lebt, weil er in längst vergessenen Sprache etwas über den Menschen in der Dunkelheit erzählt. Nicht mehr, nicht weniger.
Nach mehreren Stunden schließen sich wieder die Tore der Hölle, als wäre nichts gewesen. Was eben noch metaphysische Miliz war, löst sich plaudernd auf, zum fröhlichen Umtrunk im "Hotel Diedrich" oder im "Sauerländer Hof". In Wohlgefallen.