Ostkunst-Retrospektive Zeitreise in den Sowjetblock

Kunst als Mittel zur harschen Abrechnung mit dem sozialistischen Regime: Im Pariser Centre Pompidou sind Werke von über 50 Künstlern aus dem ehemaligen Ostblock zu sehen - ein spannender Rückblick auf die "Versprechen der Vergangenheit".

Collagen, Plastiken, Videos: Es sind mal bunte, mal schwarz-weiße Motive, es sind Dokumente auf grobkörnigem Super-8-Format oder hochaufgelöste Fotos, es sind kinetische Maschinen, Mitschnitte von Performances und verfremdete Installationen. Vor allem sind es Belege einer Zeitreise - mehr als 160 Arbeiten, die derzeit im Centre Pompidou zu entdecken sind.

20 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer blickt die Ausstellung "Versprechen der Vergangenheit" jenseits von Generationen und nationalen Grenzen auf Künstler, die mehrheitlich aus dem Raum des früheren "Ostblocks" stammen und lässt dabei die Geschichte der Sowjet-nahen Regime Revue passieren. Dabei stellt die kluge Auswahl viele im Westen wenig bekannte Namen vor; zugleich zeigt sie den Einfluss der Altmeister auf die junge Szene der internationalen Kunst.

Die Idee zum Blick auf die Avantgarde von einst und jetzt entstand durch die Zusammenarbeit von Kuratorin Christine Macel und Joanna Mytkowska, Direktorin des Museums für Moderne Kunst, Warschau, die 2005 im Centre Pompidou Werke des polnischen Künstlers Pawel Althamer gezeigt hatten. Jetzt stellen sie die Werke der jungen Generation vor und begeben sich zugleich auf eine historische Spurenlese: "Wir wollten einerseits dem Erbe nachgehen, das den Künstlern von den Schrittmachern wie Julius Koller, Gorgona oder Edward Krasinski übermittelt wurde, und ihre Geschichte schreiben", erklärt Macel das Konzept. "Und zudem wollten wir die Frage stellen: Was ist eine osteuropäische Kunst just zu dem Zeitpunkt, da dieses Konzept veraltet ist und wir am Beginn einer neuen gemeinsamen Welt stehen?"

Monochrome Einheitlichkeit

Der Titel "Die Versprechen der Vergangenheit - eine unterbrochene Geschichte der Kunst im früheren Ost-Europa" geht zurück auf Walter Benjamin (1892-1940). In einer seiner letzten Schriften, "Über das Konzept der Geschichte", geschrieben voller Bitterkeit über den Hitler-Stalin-Pakt von 1939, stellt der deutsche Philosoph die Frage nach dem kulturellen Kontinuum: Benjamin glaubt, dass die Geschichte nicht mehr aus einer linearen Abfolge von Handlung und Wirkung besteht, sondern sich auflöst in arabeske Schleifen. Vergangenheit gehört daher aktualisiert. "Diese Herangehensweise, die bei den jungen Künstlern sichtbar ist, gilt auch für den Kunsthistoriker", konstatieren Macel und Mytkowska.

Die Übersicht zeigt Belege für die Aneignung dieser eigenen Vergangenheit. Eingerichtet zwischen Stellwänden, die, entworfen von der Künstlerin Monika Sosnnowska, wie ein Sternbild selbst zur architektonischen Skulptur werden, wird das Mäandern der Kunst und der Künstler zwischen Einflüssen aus Ost und West nachvollziehbar - ganz im Widerspruch zum Glauben an gradlinige Evolution und qualitativen Fortschritt. Und es wird sichtbar, dass die nationalen Gräben von einst längst durch eine kreative Internationale überwunden sind; Begriffe wie "Ost-Block" und "West-Mächte" sind Vergangenheit.

Die Retrospektive gruppiert sich in Themenschwerpunkten: "Jenseits der modernen Utopien" offenbart das künstlerische Schaffen als Teil des gesellschaftlichen Lebens, wenn der Rumäne Ion Grigorescu Anfang der siebziger Jahre das Bukarest unter Diktator Ceausescu heimlich filmt: Die Häuserriegel erweisen sich als Belege eines betonierten Kontrollanspruchs. Die Utopie zeigt sich in den bunten Häuserfassaden von Tirana, wo Bürgermeister Edi Rama, selbst Künstler, Albaniens Hauptstadt farbige Hausfassaden verordnet hat. "Wie macht man aus einer Stadt, in der man zum Überleben verdammt ist, einen Ort, an dem man zu leben wünscht?", überlegt Anri Sala in seinem Video, während Landsmann Gentian Seda die Farborgie als bloße Dekoration entlarvt - indem er sie in monochromer Einheitlichkeit vorführt.

Auf ein Minimum reduziert

Im Abschnitt "Phantasien der Totalität" drehen sich Maschinen des Ungarn Attila Csörgö, ausgerichtet an mathematischen Vorgaben, Exponate, die an die kinetische Kunst erinnern. Ion Grigorescu, geboren 1945, einer der einflussreichsten Schöpfer seiner Generation vermischt in seiner Installation "Boxkampf" von 1977 übereinander kopierte Filmaufnahmen: Eine ironische Abrechnung mit dem rumänischen Regime. Mit der Bewegung "Anti-Art" versuchen Künstler die Trennung, ja die Auflehnung gegen die modernistischen Zwänge der akademischen Tradition in Anlehnung an Dada und Fluxus. Der Pole Edward Krasinski reduziert Anfang der sechziger Jahre seine Skulpturen auf ein Minimum - gezeichnet werden die Trouvaillen des Alltags mit einem schmalen blauen Klebeband, die forthin zu seiner Signatur werden.

Unter dem Rubrum "Öffentlicher/privater Raum" vermittelt der Film von Tibor Hajas (1946-1980) eine immer noch große Aktualität: Der Ungar, 1965 wegen seiner Teilnahme an einer politischen Demonstration zur Erinnerung an den Volksaufstand festgenommen und ein Jahr lang eingekerkert, versucht sich anschließend mit Experimentalfilmen und -Fotografien, aufgenommen in Budapest. Seine "Selbst-Modenschau" (1976) lädt Passanten vor einer schwarzen Wand zum gefilmten Selbstporträt. Die 14 Minuten zeigen einen sozialen Querschnitt wie die Bilder der US-Fotografen Model Lisette, Robert Frank oder Bruce Davidson - doch dabei entfalten die Dokumentaraufnahmen eine bissig-bittere Ironie, es sind höchst subversive Abrechnungen mit dem real-existierenden sozialistischen Alltag.

Noch deutlicher artikuliert sich Tamas Szentjoby, geboren 1944, dessen radikale Einstellung gegen das Regime unter dem Stichwort "Mikropolitische Gesten und Kritik der Institution" gezeigt werden. Er fordert nach 1968 und in Solidarität mit der CSSR nach dem Einmarsch der Ostblock-Armeen die Verweigerung des Künstlers: "Alles was verboten ist, ist Kunst. Lasst Euch verbieten." Die eindeutige Stellungnahme zwingt ihn 1974, seine Heimat zu verlassen, er wird erst in den neunziger Jahren nach Ungarn zurückkehren.

Darstellung der Zahl Null

Spöttischer opponiert sein Landsmann Endre Tót, Jahrgang 1937, der sich nach einer klassischen Ausbildung an der Akademie der Künste in Budapest vom Expressionismus zum abstrakten Stil entwickelt und dann Performances entdeckt, die die Abwesenheit des Sujets zum Thema machen, symbolisiert durch die Darstellung der Zahl Null. Als Reaktion gegen die Zensur wird die Null zur Darstellung auf Postkarten, Banderolen und Transparenten: Widerstand als Null-Summenspiel.

Nesa Paripovic, geboren 1942, dessen Bild Plakat und Katalog der Ausstellung illustriert, gehört zu einer Gruppe von serbischen Konzeptkünstlern, die sich der Dekonstruktion widmen - vor allem wenn es um die eigene Identität geht. Mitte der siebziger Jahre dreht er drei Filme unter stets demselben Titel "NP" (seinen Initialen). Der in Paris gezeigte Film zeigt ihn bei der Durchquerung von Belgrad, entlang einer gedachten Geraden; Paripovic überklettert dabei Zäune, Mauern und überspringt Abgründe - eine selbstironische Darstellung, die den Künstler zum Gegenstand seines Werkes macht.

Ergänzt wird die bemerkenswerte Werkschau im Centre Pompidou durch Materialien, die im angrenzenden "Espace 315" zusammengetragen sind und die Zeitreise in den Ostblock historisch erweitern. Die Filme und Videos, vorgestellt in einer einfallsreichen szenischen Anordnung von Tobias Putrih, bieten zusätzliche Erklärungshilfen. Eine Reihe von Vorträgen und der umfangreiche Katalog informieren obendrein über eine Epoche der osteuropäischen Avantgarde, die bislang vor allem Experten vorbehalten war. Die "Versprechen der Vergangenheit" machen die Künstler einer Region und einer Ära wieder zum greifbaren Erlebnis - auch wenn der "Ostblock" Vergangenheit ist.


"Les Promesses du Passé", 1950-2010, bis zum 19.Juli. Hinweise unter www.centrepompidou.fr . Der ausführlich bebilderte Katalog von Christine Macel, Joanna Mytkowska und Natasa Petrensin-Bachelelz, erschien bei den Editions du Centre Pompidou, 44,90 Euro.

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