WM im Fernsehen Das Dilemma des Kommentators

ZDF-Kommentator Béla Réthy: Wechselbad der Gefühle
Foto: imagoKein Zweifel: Auch für das deutsche Fernsehen war das eine herausragende Weltmeisterschaft. Wir konnten Momente einfangen, die man vielleicht nie mehr vergessen wird: die sechs magischen Minuten, als die deutsche Elf mit vier Toren gegen Brasilien die Welt des grünen Rasens für immer veränderte, das schmerzverzerrte Gesicht Neymars nach dem Foul im Spiel gegen Kolumbien oder Klinsmanns abgrundtiefe Enttäuschung beim Ausscheiden seines US-Teams. Noch mehr als beim Sommermärchen im eigenen Land 2006 oder 2010 bei der WM in Südafrika waren die Deutschen dabei, vorm Fernseher, beim Public Viewing oder online. TV-Rekorde purzelten, in den Mediatheken wurden neue Bestmarken aufgestellt. Ein Land ging mit, mit dem Fernsehen, dank des Fernsehens.
Moderatoren, Reporter, Interviewer und Experten stehen bei einem solchen Ereignis auf der größten Bühne, die dieses Land medial zu bieten hat. Vor 30 Millionen Zuschauern oder mehr zu moderieren, zu kommentieren oder zu kritisieren, das folgt eigenen Gesetzen der Wahrnehmung und öffentlicher Präsenz. Jeder, der auf dieser Bühne steht, muss einen Spagat unterschiedlicher Erwartungen aushalten - zwischen Mitfiebern und Kritik. Es jedem recht zu machen, ist einfach unmöglich. Wichtig ist der eigene Kompass bei unterschiedlichen Rollen, die während eines solchen Turniers auszufüllen sind.

Peter Frey ist seit 2010 ZDF-Chefredakteur. Er studierte Politikwissenschaft, Pädagogik und Spanisch an der Universität Mainz. Für das ZDF-"heute-journal" berichtete er aus Nicaragua, Mexiko, Polen und Spanien. 1991 ging Frey als Korrespondent und stellvertretender Leiter des dortigen ZDF-Studios nach Washington. Von 1992 bis 1998 leitete und moderierte er das ZDF-"Morgenmagazin", ab 1998 stand er der ZDF-Hauptredaktion Außenpolitik vor, bis 2010 führte Frey das ZDF-Hauptstadtstudio.
In den mehr als fünf Wochen eines Turniers nicht "Part of the Pack", sondern Beobachter zu bleiben, ist auch für Sportredakteure nicht einfach. Es gehört zum Selbstverständnis des ZDF, Kritik, die in anderen Medien immer wieder an der vermeintlichen Nähe unserer Sportreporter zu den Spielern aufgekommen ist, intern zu diskutieren. Wir befinden uns hier aber auch in einem Spannungsfeld: Den einen kann Sportberichterstattung nicht analytisch und distanziert genug sein. Die anderen beklagen auf unserer Facebook-Seite: "Anstatt sich zu freuen, hauen die Reporter drauf und erst recht die im Studio! Ich versteh es nicht!"
Wir wissen, dass wir den gewaltigen Zuspruch zu unseren Programmen nicht uns selbst, sondern der Leistung insbesondere der deutschen Mannschaft verdanken. Fußball elektrisiert, Fußball ist Zeitgeist, Fußball verbindet in den Zeiten der Globalisierung eine Nation und - ja, auch das - Fußball hat sich neue Zielgruppen erschlossen. Die Frauen zittern und feiern jetzt ebenso mit wie die Männer. Dem Fußball gelingt, woran Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und auch öffentlich-rechtliche Anstalten hart arbeiten müssen: Er nimmt auch die Jungen mit, scheinbar mühelos. Die Konsequenz: Wie bei keinem anderen Ereignis, keiner Show, keiner Wahl und keiner Katastrophe wird das Fernsehen auf einem immer fragmentierteren Markt wieder zu einem Medium für alle.
"Natürlich stecken wir im Dilemma"
Das hat, und an dieser Stelle kommt es jetzt wirklich auf Professionalität, auf Fernseh-Handwerk an, auch mit der Art und Weise zu tun, wie sich das Spiel und seine Umsetzung in Bildern verändert hat. Neue Technologien führen zu einer noch größeren Intensität. Close-ups und Zeitlupen schaffen, mitten im Drama des laufenden Spiels, eine unerhörte Nähe zu den Spielern. Man blickt in ihre Gesichter, auf ihre Körper, in ihr Zusammenspiel und sieht alle Varianten menschlicher Gefühle: Triumph, Schmerz, Jubel, Zorn - Teamgeist.
Wie geht das Fernsehen in diesem Schlüsselmoment mit seiner Rolle um, mit seinen Möglichkeiten - und auch mit seinen journalistischen Pflichten? Natürlich stecken wir im Dilemma: Wir wollen keine Spielverderber sein, aber als Fernsehjournalisten stehen wir auch in der Pflicht, einzuordnen, Kritik zu üben, Fragen zu stellen. Eine Fußball-WM ist ein sportlicher Wettbewerb, der sportjournalistisch betrachtet und - auch mit den faszinierenden Mitteln des Fernsehens und des Internets - aufbereitet werden muss. Angesichts des enormen Zuspruchs ist aber klar: Die Fußball-WM ist massenwirksame Unterhaltung. Ein Teil des Faszinosums besteht dabei in der Unberechenbarkeit, in den Überraschungen, an denen ja gerade diese WM nicht arm war.
Auch ein Béla Réthy geht beim 7:1-Sieg gegen Brasilien durch ein Wechselbad der Gefühle. Wie er an jenem Abend in Belo Horizonte erst Freude, dann Fassungslosigkeit, später sogar einen Anflug von Mitleiden am Schicksal der Seleção live und ohne Delete-Taste in Worte fasste, das war hohe Kommentatorenkunst. Ein Kommentator muss analysieren, was auf dem Feld geschieht und warum. Er muss die Zuschauer aber auch emotional mitnehmen. Selbstverständlich ist nicht jeder einzelne Moment in einer fast 40 Tage umfassenden Sendestrecke State of the Art. Aber auch für den Fernsehjournalismus werden in der WM 2014 einige Schlüsselszenen bleiben.
Was gefragt werden muss
Dazu gehört das Interview von ZDF-Sportredakteur Boris Büchler im Anschluss an das schwache Spiel der deutschen Elf gegen Algerien. Gewiss, als Fan fragte man sich, wie sich das wohl für einen Verteidiger anfühlen muss, wenn er 120 Minuten gerackert hat und dann gefragt wird, warum die Mannschaft nicht zu einem besseren Lauf gefunden hat. Aber diese Frage und ein paar andere mussten sein. Büchler war nicht aggressiv oder unverschämt. Als guter Journalist fragte er einfach, was gefragt werden musste. Und die Antworten von Per Mertesacker gaben - wahrscheinlich weil der Mann nicht im Wattebäuschchen-Stil befragt worden war - einen guten Einblick ins Innenleben von Jogis Mannen. Trotzdem markierten diese zwei Minuten in der öffentlichen Diskussion eine Grenze: Darf der das? Als Chefredakteur sage ich: Er musste das. Auch beim politischen Interview bekommt man aufschlussreiche Antworten oft erst auf klare Fragen.
Fußball zu entschlüsseln, zu erklären, mitunter in der nüchternen Ästhetik von Computeranimationen zu zeigen, warum mancher Pass fehlgeschlagen ist, auch das hat das Fernsehen während der stundenlangen Übertragungen geleistet. Aber: Fußball hat viele Facetten, er steckt voller Geschichten von Menschen und Emotionen. Wer diese ausklammert, wird dem Spiel und den Gefühlen, die Millionen damit verbinden, nicht gerecht. Aus einzelnen Zitaten der Berichterstattung, aus einzelnen Interviews eine grundsätzliche flächendeckende Grenzüberschreitung ins allzu Seichte oder Kumpelhafte zu konstruieren, führt zu weit.
Übrigens hat eine repräsentative Umfrage gerade erst gezeigt, wie tief der Graben zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung beim Thema Fußball ist. 91 Prozent der Befragten lobten die "aufschlussreichen" Spielanalysen der Öffentlich-Rechtlichen. Drei Viertel gaben für die Gesamtberichterstattung die Noten gut oder sehr gut.
Oft kommt es nicht mehr vor, dass das Fernsehen den Zeitgeist verkörpert. Mit aller Hochachtung vor den Spielern, die ihre Knochen hingehalten haben, sage ich: Auch wir haben eine gute WM gespielt.