Philosophie Hans-Georg Gadamer ist tot
Seine Aura zog viele in ihren Bann. Wenn Gadamer selbst in hohem Alter noch gebeugt am Stock, mit langsamen und schlurfenden Schritten zu einem seiner Vorträge ans Pult trat, mochten viele im Publikum mit ihm Mitleid haben. Aber sobald er zu sprechen begann, wurde jedem klar: In dem betagten Körper steckte ein scharfer Verstand, ein brillanter Geist, ein Meister der Sprache. So gerieten seine Auftritte zumeist zu geisteswissenschaftlichen Happenings.
In Folge seines 1960 publizierten Hauptwerks "Wahrheit und Methode" galt er als Hauptvertreter der zeitgenössischen philosophischen "Hermeneutik", der Lehre von der Auslegung und vom Verstehen. Dem Gelehrten ging es in seinem Werk darum, sich und anderen Menschen eine vertiefte Art von Selbsterfahrung und Lebenserfahrung zu vermitteln. Dabei spielte die denkende und einfühlende Erschließung von Texten aus der gesamten philosophischem und dichterischen Tradition eine zentrale Rolle.
Bis ins höchste Alter hinein war der Gelehrte, der stets auch an aktuellen Weltentwicklungen Anteil nahm, mit seinen Vorträgen in der Öffentlichkeit präsent. Zuletzt erschien noch in diesem Jahr der Gesprächsband "Die Lektion des Jahrhunderts" mit seinem Schüler Riccardo Dottori.
Gadamer wurde am 11. Februar 1900 als Sohn eines Professors der pharmazeutischen Chemie in Marburg geboren. Er wuchs in Breslau auf und studierte dann an verschiedenen deutschen Universitäten. Wichtigster Lehrer wurde für ihn Martin Heidegger, einer der international einflussreichsten Denker des 20. Jahrhunderts.
Gadamer, ein Mann von gewinnendem Wesen und imponierender aristokratischer Erscheinung, lehrte an den Universitäten Marburg, Leipzig, Frankfurt am Main und Heidelberg. Hier wurde er 1968 emeritiert. Er lebte bis zu seinem Tode im Heidelberger Stadtteil Ziegelhausen.