Plädoyer für die Zehn Gebote Du sollst das Prophetengeraune achten!

Moses mit den Zehn Geboten: Gewinnende Moral der Verlierer
Foto: Hulton Archive/ Getty ImagesDie Zehn Gebote - ein gewaltiger Betrug, in der Geschichte der Moral gar einer der folgenreichsten? Enthalten diese Gebote bloß eine Moral für die Schlichten? Muss nicht, zum Beispiel, wer Erfolg haben will, immer wieder lügen und den Nächsten, statt ihn zu lieben, über den Tisch ziehen? Zehn Gebote - angeblich von Mose tradiert, angeblich zehn, angeblich einzig in der Religionsgeschichte, einzig wie der Gott, der sie seinem auserwählten Volk beschert hat: was ja alles so nicht stimmt. Schon der französische Philosoph René Descartes stellte sich im 17. Jahrhundert, ausgerechnet in der "Meditation" über die seiner Ansicht nach beweisbare Existenz Gottes, die bange Frage, ob womöglich dieser "Gott ein Betrüger ist", allmächtig genug, um uns bei der Suche nach dem Wahren ständig in die Irre zu führen.
Und dennoch gilt: Diese Zehn Gebote sind und bleiben das Faszinosum der Kulturgeschichte, der unerschütterliche Prüfstein für humanes Ethos, dafür, ob ein Mensch Charakter hat oder auch nicht. Die stetige Orientierung an dem Grundgesetz dieser Gebote ist trotz allen historischen, moralphilosophischen, kasuistischen und naturwissenschaftlichen Einwänden gegen sie notwendig, wenn es mit der Menschheit noch ein paar Jahrtausende gutgehen soll. Die verstärkte Rückbesinnung auf ihre Einfachheit und Unbestechlichkeit gehört nicht zuletzt zu den Lektionen, die wir nach der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise lernen müssen. Gibt der Finanzberater, der einer Rentnerin den Kauf hochriskanter Zertifikate empfiehlt, weil er dabei eine satte Provision einstreichen kann, nicht ein "falsch Zeugnis" ab, ist er auch nur einen Deut besser als ein lügnerischer Pharisäer oder ein Bauer, der vor 2000 Jahren seinem Konkurrenten ein Schaf stahl?
Die numinose Magie dieser archaischen "Zehn"-Regel strahlt weit über die Grenzen von Judentum und Christentum hinaus auf alle möglichen Kulturen und ist allen komplizierteren Toleranzgeboten, allen differenzierteren, vermeintlich moderneren Katalogen humanen Wohlverhaltens überlegen - schon aufgrund dieser einzigartigen Magie. Die Zehn Gebote sind, auch unabhängig von ihrem ethischen Wahrheitswert, nun mal die beste Marke auf dem Weltmarkt der Verhaltensmöglichkeiten.
Ist Nietzsche der eigentliche Betrüger?
Wir wählen mit Absicht diese kommerzielle Metapher, um so rasch wie möglich bei unseren Überlegungen auf deren prominentesten Gegner hinzuweisen: die spätestens durch den Philosophen Friedrich Nietzsche intellektuell salonfähig gewordene Ansicht, der altmodische Dekalog sei nichts als eine Moral der Verlierer, derer, die der harten Konkurrenz von Wirtschaft und Gesellschaft nicht so recht gewachsen sind. Nietzsche sprach abfällig von "Sklaven-Moral", meinte, "das Leben" müsse von dieser Moral der "Leidenden" und "Niedrigen" befreit werden; es müsse sich vom Gebot der Nächstenliebe, dieser geheuchelten "Nächstensucht", lösen, um sich auf den "Willen zur Macht" zu konzentrieren, auf dieses "Ur-Faktum aller Geschichte". Ist am Ende der wortgewaltige Denker dieses Ellbogen-Atheismus, der "Gottes Tod" ja ziemlich argumentationsfrei verkündet hat, der eigentliche Betrüger?
Letzten Endes sind die vermeintlich "Niedrigen" und Verlierer der Geschichte nicht selten die eigentlich gewinnenden Menschen - ob sich in der Sympathie, die sie auf sich ziehen, nicht auch eine moralische Qualität zeigt? In den extremen Gewaltsituationen der Vergangenheit, etwa im Krieg oder im Konzentrationslager, hat die moralische Unantastbarkeit vieler Opfer so manchen Täter entwaffnet und durch überlegene Menschlichkeit deklassiert - nicht erst im Urteil der Nachgeborenen.
Herta Müllers Romanbericht "Atemschaukel" belegt eindrucksvoll-schaurig diese Stärke der Schwachen. Nietzsches Philosophie vom Naturrecht des Stärkeren, vom allmächtigen "Willen zur Macht" in jedem von uns, ist nicht das letzte Wort der Weltgeschichte. Nietzsche hat den Evolutionsbiologen Charles Darwin stark vereinfacht und damit jede Menge Missverständnisse gesät. Verhaltensbiologen, die heutzutage mit Lehren wie jener vom "egoistischen Gen" der Menschenart (Richard Dawkins) Darwin und Nietzsche fortschreiben, verbreiten eine bestimmte Ideologie, aber nicht das, was sie vorgeben: Resultate empirischer Forschung. Das sagt kein Geisteswissenschaftler, der nichts von Biologie versteht, das sagt etwa der Verhaltensbiologe Frans de Waal, einer der bedeutenden Primatenforscher unserer Zeit.
Die Pointe der Aufklärung, wie Kant sie verstand
Es lohnt sich also, nicht nur nach der Herkunft und der historischen Bedeutung dieser Gebote zu fragen, sondern auch nach ihrer Relevanz für unsere Gegenwart, die auch da, wo sie christlich geprägt ist, die alttestamentarische Moral gern mit psychologisch verständnisvollem, besserwisserischem Lächeln übergeht. Etwa nach dem Motto: Wer nimmt das alte Prophetengeraune schon so wörtlich? Warum denn so ernst?
Der Kernsatz der biblischen Ethik lautet: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst, ich bin der Herr." So zu lesen im dritten Buch Mose. Rabbi Akiva meint im Talmud dazu: Dies sei das wichtigste Gebot, "der Rest ist nur Kommentar". Der Rest formuliert auch das aus, was wir unter Gerechtigkeit verstehen - das ist jener Begriff, der gerade in letzter Zeit zur größten moralischen Herausforderung unserer Sozialen Marktwirtschaft geworden ist.
Er war es schon vor der jüngsten Krise. Beim Propheten Jeremia heißt es: "Dessen rühme sich, wer sich rühmen will: einsichtig zu sein und mich zu erkennen, zu wissen, dass ich, der Herr, es bin, der Gnade und Recht und Gerechtigkeit auf Erden übt." Schon das Alte Testament kennt den Unterschied zwischen rechtlicher Norm und Gerechtigkeitsempfinden. Der Bürger eines Rechtsstaates ist zum Rechtsgehorsam verpflichtet - aber nicht zwingend aus moralischem Grund.
Immanuel Kant hat im 18. Jahrhundert den geistigen Gehalt der Zehn Gebote mit seiner Lehre vom Kategorischen Imperativ zugespitzt, präzisiert, formalisiert und dadurch auch entscheidend verändert. Bei ihm wurde aus dem Willen Gottes eine Selbstverpflichtung der menschlichen Vernunft. Indirekt hat er dadurch die Theologie in Anthropologie verwandelt: Was Gott vom Menschen fordert, verlangt der Mensch in Wahrheit von sich selbst - wenn er sich denn ernsthaft genug reflektiert. Als Kodex einer Vernünftigkeit, zu deren Wesen es gehört, dem praktischen Verhalten des Menschen verbindliche Gesetze vorzugeben, eröffnen die Zehn Gebote ein aufregendes Kapitel anthropologischer Erkenntnis: Was der Mensch eigentlich ist, lässt sich erst so zureichend verstehen. Sich selbst Gesetze, auch "Prinzipien" genannt, verordnen zu können, ist die ethische Erfüllung der menschlichen Freiheit. Das ist die Pointe der Aufklärung, wie Kant sie verstand.
Das heißt für uns: Die konsumorientierte Beliebigkeit, deren Kitzelpotenz gegenwärtig Tag für Tag als Inbegriff menschlicher Freiheit gefeiert wird, verfehlt die besten Entfaltungschancen des Menschen. Das heißt aber auch: Der alttestamentarische Gott meint es letztlich gut, sogar mit jenen Individuen, die nicht an ihn glauben. Religion, so verstanden, ist Menschenkunde.