Platzmangel in Städten Der Preis des urbanen Lebens
Irgendwann wurde die Enge selbst Michael Wolf zu viel. Nach 13 Jahren in Hongkong, in denen der deutsche Fotograf mit Bildern von kolossalen Hochhausfassaden und bedrückendem Platzmangel bekannt geworden war, habe er gemerkt, dass er das Dasein ohne Rückzugsmöglichkeit nicht mehr aushalte. "Es schadete meiner Ehe, meiner Arbeit, meiner Gesundheit. Ich musste mein Leben überdenken", sagt Wolf.
Er zog auf die Insel Cheung Chau und begann, jeden Morgen um 5.30 Uhr auf dem Dach seines Hauses zu meditieren. Statt der beklemmenden Lebensverhältnisse fotografierte er die Sonnenaufgänge Hongkongs. "Das ist natürlich an der Grenze zum Kitsch", sagt Wolf, "aber mein Kopf folgt immer meinem Bauch. Ich musste das einfach machen."
"Cheung Chau Sunrises" heißt die neue Werkserie des zweifach mit dem World Press Photo Award ausgezeichneten Fotografen, die nun erstmalig in der beeindruckenden Werkschau "Michael Wolf. Life in Cities" in den Deichtorhallen Hamburg zu sehen ist. Sonne, Wolken, Horizont, Optimismus - die neue Serie zeigt das, was in dem sozialkritischen Werk von Michael Wolf bislang nicht vorkam.
"Ich hatte plötzlich riesige Freude an den Lichtverhältnissen", sagt Wolf, während er gut einhundert seiner Sonnenaufgänge kurz vor der Eröffnung der Ausstellung betrachtet. Und doch gibt es einen plot twist, der das scheinbar abgegriffene Motiv mit seinen anderen Themen verbindet: "Cheung Chau ist auch als Selbstmordinsel bekannt", sagt Wolf. "Dort haben sich so viele junge Paare aus Liebeskummer umgebracht, weil sie den Tod einem Leben ohne gemeinsame Privatsphäre vorzogen."
Klaustrophobische Aufnahmen
Denn das sind die Lebensumstände, von denen Michael Wolf in seinen Serien "Architecture of Density", "Life in Cities" oder "Tokyo Compression" erzählt hat, die ebenfalls in Hamburg gezeigt werden. Er hält das moderne Stadtleben in den am dichtesten bevölkerten Metropolen der Welt fest, wo Menschen in Wohnungen leben, die "Schuhkartons" genannt werden oder manchmal auch "Käfige", weil der private Raum nur mit Gittern abgetrennt ist. "80 Prozent der jungen Menschen bis Mitte Dreißig wohnen bei ihren Eltern, denn auch Hochschulabsolventen können sich von ihrem Lohn nicht mal ein kleines Appartement leisten. Und alle paar Jahre müssen die Menschen umziehen, weil die Mieten ihrer Wohnungen rasant steigen."
Michael Wolf fotografierte die extreme Dichte funktionaler Architektur, in der die Menschen eng aneinander wohnen, aber das Soziale oft verloren geht. In der Serie "100 x 100" wirft er einen Blick hinter die Fassaden der Wohnblöcke in 100 Zimmer des Shek Kip Mei Estate, wo jede Wohnung neun Quadratmeter misst. Eine dieser Wohnzellen ist in den Deichtorhallen nachgebildet, um den Besucher die Enge nachfühlen zu lassen.
Noch klaustrophobischer geht es in "Tokyo Compression" zu, seiner Serie über anonyme Passagiere in der U-Bahn Tokyos, eingepfercht in überfüllten Kapseln, die Gesichter an die Fenster gepresst. Wie Tränen rinnt das Kondenswasser an den Scheiben der Züge herab, dahinter blicken Männer in Anzügen resigniert oder schließen wehrlos die Augen. Man fragt sich: Sollte der Mensch so viel in Kauf nehmen, um in modernen Großstädten zu leben? Degradieren ihn die Verhältnisse nicht zu einer Art Vieh, zu menschlicher Masse im Dienste ökonomischer Verhältnisse?
Im Video: Die neue Art zu Wohnen
Die Fabrik der Welt
Von Kapitalismus und Massenproduktion erzählt auch die zentrale Wandinstallation "The Real Toy Story" der Schau. 30.000 gebrauchte Billigspielzeuge made in China hängen dicht an dicht auf 70 Quadratmetern und symbolisieren den westlichen Hunger nach Konsumartikeln. Das Meer aus Spielzeug hat biografischen Bezug: "Meine Eltern hassten Plastikspielzeug, als Kind bekam ich es nie. Mit 52 Jahren holte ich nach, es zu besitzen. Ich bin außerdem eine obsessive Sammlernatur, das Anhäufen befriedigte mich tief, ich war wie berauscht."
Das Gewimmel aus nackten Puppen, kleinen Autos und Figuren soll als Konsumkritik gelesen werden - freilich eine, die sich eines naheliegenden Symbolismus bedient, dafür aber auch für jedermann ohne Erklärung verständlich ist. Inmitten der Figuren sind Porträtfotos von Arbeitern und Arbeiterinnen aus chinesischen Spielzeugfabriken zu sehen, einige zeigen Verstümmelungen, die auf Arbeitsunfällen beruhen. "So vieles, was wir benutzen, wird in China gemacht. Es ist die Fabrik der Welt. Durch die Porträts derjenigen, die dort arbeiten, wird "Real Toy Story" politisch", sagt Wolf.
Denn der Preis für Konsum ist meist höher als der, der auf der Ware steht.
"Life in Cities" von Michael Wolf ist bis zum 3. März 2019 im Haus der Photographie in Hamburg zu sehen.