Neues jüdisches Museum in Warschau "Das Leben ist nicht weniger wichtig als der Tod"

Es sollte nicht noch ein Holocaust-Museum werden: Zwanzig Jahre hat es gedauert, jetzt öffnet das Museum der Geschichte der polnischen Juden in Warschau seine beeindruckende Dauerausstellung.
Nachgebildete Synagoge im Museum der Geschichte der polnischen Juden

Nachgebildete Synagoge im Museum der Geschichte der polnischen Juden

Foto: Czarek Sokolowski/ AP/dpa

Der Anfang schimmert grün. Am Fuß einer steilen Treppe erscheint ein Märchenwald, dunkle Tannen von Lichtstrahlen durchbrochen, auf Projektionswänden. Darauf Verse in Polnisch, Englisch und Jiddisch: "Und so gelangten sie in das Land Polin."

Polin ist das jiddische Wort für Polen - und der Name des Museums der Geschichte der polnischen Juden in Warschau. Er findet sich auf dessen Glasfassade wieder und ist als Aufforderung an die Besucher zu verstehen. Auf Hebräisch bedeutet Po-lin "hier kannst du ruhen" oder "hier verweile". Einer alten Legende zufolge hörten Juden, die im zehnten Jahrhundert christlicher Zeitrechnung vor der Verfolgung in Westeuropa flohen, diese Worte in einem Wald in Polen. Sie entschlossen sich zu bleiben. In einem Land, das für die meisten Juden heute immer noch einem Friedhof gleicht. Es ist das Land, in dem Besuchergruppen meist nur die Vernichtungslager der Nationalsozialisten wie Auschwitz-Birkenau oder Sobibór besichtigen.

Das Museum der Geschichte der polnischen Juden in Warschau

Das Museum der Geschichte der polnischen Juden in Warschau

Foto: © Peter Andrews / Reuters/ REUTERS

Nun ist ein beeindruckender Ort hinzugekommen, der nicht das Sterben in den Vordergrund stellt, sondern tausend Jahre jüdisches Leben. Die Ausstellung zeigt: Weder wäre Polen ohne die Geschichte der Juden denkbar noch die Geschichte der Juden ohne das historische Polen.

Nach 20 Jahren Vorbereitungen haben am Dienstagnachmittag der neue israelische Präsident Reuven Rivlin und sein polnischer Kollege Bronislaw Komorowski die neue Dauerausstellung eröffnet. Es ist die Kulturveranstaltung des Jahres in Polen, seit Wochen kündigen Plakate in der Hauptstadt das Ereignis ein, das drei Tage lang mit Konzerten und Führungen bis in die Nacht gefeiert wird.

Polens Präsident Bronislaw Komorowski, Israels Staatschef Reuven Rivlin (l.) vor dem Museum

Polens Präsident Bronislaw Komorowski, Israels Staatschef Reuven Rivlin (l.) vor dem Museum

Foto: Radek Pietruszka/ dpa

Der Ort: Das Polin-Museum befindet sich auf dem Gelände des früheren Warschauer Ghettos, das Gebäude der finnischen Architekten Rainer Mahlamäki und Ilmar Lahdelma ist bereits seit Frühjahr 2013 für Besucher geöffnet. Durch seine reflektierende Glasfassade bildet das Museum einen Kontrast zu dem schwarzen Granitdenkmal des Aufstands im Warschauer Ghetto, wo einst der deutsche Bundeskanzler Willy Brandt auf die Knie sank.

Das Konzept: Nicht noch ein Holocaust-Museum wie etwa in Washington zu schaffen - das war das Ziel der Initiatoren, des Vereins Jüdisches Historisches Institut, der Stadt Warschau und des polnischen Kulturministeriums, die das Museum konzipiert und mithilfe von internationalen Spendern (hier lesen Sie das Interview mit Unterstützer Ted Taube) bezahlt haben. 82,5 Millionen Euro haben Gebäude und Ausstellung gekostet (fünf Millionen gab die Bundesregierung), die Finanzierung war ein mühsamer Prozess. Die ersten Vorbereitungen begannen zu Beginn der Neunzigerjahre.

Programmdirektorin Barbara Kirshenblatt-Gimblett: "Eine Brücke zwischen Zeiten und Menschen"

Programmdirektorin Barbara Kirshenblatt-Gimblett: "Eine Brücke zwischen Zeiten und Menschen"

Foto: Eva Krafczyk/ dpa

"Der Holocaust war nicht der Anfang und nicht das Ende jüdischen Lebens in Polen", sagt Programmdirektorin Barbara Kirshenblatt-Gimblett. Die 72-Jährige wurde in Kanada als Tochter polnischer Juden geboren. Sie hat die Ausstellung mit Hunderten Experten aus Polen, Israel und den USA geschaffen. Man wollte nicht so tun, "als ob das Leben weniger wichtig gewesen wäre als der Tod", sagt Museumsdirektor Dariusz Stola.

Bis heute haben zwei Drittel aller Juden weltweit polnische Wurzeln. Das historische Polen, dazu gehören die verlorenen Gebiete im heutigen Baltikum, in Weißrussland und in der Ukraine, war einmal das größte Siedlungsgebiet der Juden der Welt. 3,5 Millionen Juden lebten dort bis 1939, nach dem Zensus von 2011 sind es im heutigen Polen gerade noch 2000. Andere Quellen sprechen von 8000 bis 12.000. Das Museum solle "eine Brücke zwischen Zeiten und Menschen" bilden, sagt Kirshenblatt-Gimblett.

Modell der alten Königsstadt und polnisch-jüdischen Metropole Krakau

Modell der alten Königsstadt und polnisch-jüdischen Metropole Krakau

Foto: KACPER PEMPEL/ REUTERS

Die acht Galerien: Auf mehr als 4000 Quadratmetern finden sich acht chronologisch angeordnete Abteilungen, die die Geschichte polnischer Juden von der Ansiedlung noch vor der ersten Jahrtausendwende bis heute zeigen. Die schwarz-weiß gestaltete Holocaust-Galerie "Zaglada" (zu deutsch Vernichtung) ist eine davon.

Durch die Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg gibt es kaum Originalexponate, die Macher des Museums nutzen Reproduktionen und Multimedia-Installationen. In Galerie sechs, die der Zwischenkriegszeit gewidmet ist, wurde zum Beispiel eine gepflasterte jüdische Straße nachgebaut. Zudem werden hundert jüdische Zeitungstitel präsentiert, die in polnischer, jiddischer und hebräischer Sprache erschienen sind.

Ansicht einer Straße aus einem jüdischen Viertel vor dem Zweiten Weltkrieg

Ansicht einer Straße aus einem jüdischen Viertel vor dem Zweiten Weltkrieg

Foto: Jakub Kaminski/ dpa

Nahezu originaltreu haben die Ausstellungsmacher auch eine Tränke, ein Wirtshaus und ein Gotteshaus eines Shtetls nachgebaut. Ein Beispiel für die vielen Kleinstädte, in denen 30 bis 70 Prozent der Bevölkerung Juden waren. Ihr Leben spielte sich zwischen Marktplatz und Synagoge ab, wie animierte Bilder zeigen: Frauen und Männer in Kostümen aus der Epoche bewegen sich, als würden sie ihre Einkäufe erledigen.

Die Dimension des Raumes hat eine bedeutende Funktion. Wenn die polnischen Juden eine Blütezeit erlebten, etwa im 16. und frühen 17. Jahrhundert, weitet sich die dazugehörige Galerie "Paradisus Judaeorum". Damals konnte sich das jüdische Leben und die Kultur im europäischen Vergleich toleranten Königreich Polen besonders gut entwickeln - eben ein "Paradies der Juden", die allerdings von der katholischen Kirche alles andere als Unterstützung fanden. Wenn die Juden diskriminiert wurden, verengen sich die Ausstellungsräume, zum Beispiel in einem schmalen roten Durchgang, in dem über die Kosakenpogrome im 17. Jahrhundert informiert wird oder später über die Verfolgung durch die Polen während des Zweiten Weltkriegs und danach etwa in Jedwabne oder Kielce.

Das bunt bemalte Dach der nachgebauten Synagoge aus Gwozdziec

Das bunt bemalte Dach der nachgebauten Synagoge aus Gwozdziec

Foto: Czarek Sokolowski/ AP/dpa

Der Höhepunkt : Herzstück der Ausstellung ist die detailgenaue Nachbildung einer Synagoge aus Gwozdziec, einem Ort in Galizien, der damals zu Polen gehörte und heute ukrainisch ist. Das Original, das im 17. und 18. Jahrhundert erbaut wurde, wurde von den Nazis zerstört. Freiwillige haben das Gebäude zusammen mit Handwerkern in monatelanger Arbeit nachgebaut. Die farbenprächtige Kuppel der Synagoge ist detailliert mit bunten Pflanzen- und Tiersymbolen bemalt. Für Ausstellungsleiterin Kirshenblatt-Gimblett soll der Nachbau den Besuchern eine Ahnung vom kulturellen Reichtum der zerstörten Welt geben, sie berühren, wie sie sagt: "Er ist ein Kontrast zu der Schwarz-Weiß-Fotografie, die die Vorstellung vom polnischen Judentum lange geprägt hat. Viele entdecken nun: Die jüdische Welt war voller Farbe."

Der Gesamteindruck: Es ist eine sinnliche, faszinierende Ausstellung entstanden, deren Entdeckung sich lohnt. Das Museum füllt endlich die Lücke und beendet das Schweigen, das so lange in Polens eigener Geschichtsschreibung herrschte. Hier wird deutlich ausgesprochen: Juden waren und sind Teil Polens. Allerdings werden die zwei Stunden, die das Museum für seine Führungen veranschlagt, kaum ausreichen, um die Geschichte zu verstehen. Schnell kann sich der Besucher in den interaktiven Multimedia-Installationen, Geräuschen und Informationen verlieren - es braucht Zeit, um zu verweilen und zu begreifen.

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