
Polen fordert Leihgaben zurück: Zerren um die Dokumente des Schreckens
Holocaust-Museum in Washington Polen verlangt Auschwitz-Baracke 30 zurück
Die Baracke 30 stand im Abschnitt BIIb des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau. Der Sektor war Endstation für Tausende Juden aus Theresienstadt - Männer, Frauen, Kinder. Als Ghetto getarnt, war auch das "Familienlager" ein Todestrakt auf Raten: Nach sechs Monaten wurden fast alle BIIb-Insassen ermordet.
Heute steht die Baracke 30 im United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) in Washington - ein Holzskelett mit Brettertor, das ins düstere Herz der Dauerausstellung führt. Erhalten sind auch mehrere Pritschen, auf denen die Juden schliefen, und ein Dutzend Zyklon-B-Kanister aus den Gaskammern. An der Saalwand hängt eine enorme Schwarzweiß-Luftaufnahme von Auschwitz im Winter, davor steht ein Gipsmodell der Krematorien.
Das beklemmende Ensemble im dritten Stock bildet das Kernstück des Museums an der Mall, der Erinnerungsmeile der US-Hauptstadt. Ein emotionales und auch architektonisches Kernstück: Das gesamte Museumsgebäude wurde damals um die Baracke herumgebaut.
Die dramaturgische Präsentation des Horrors, seiner Ursachen und Folgen gilt bis heute als einer der bahnbrechenden Ansätze weltweit zur historischen Aufbereitung des Holocaust. Seit der Eröffnung 1993 sind mehr als 33 Millionen Menschen durch die Säle geströmt.
Jetzt aber ist diese Präsentation in Gefahr. Der Grund findet sich in einer Plakette, die nicht nur an der Baracke 30 prangt, sondern an zahllosen weiteren Exponaten: "Leihgabe des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau".
Befristete Leihverträge laufen aus
Klein vermerkt und kaum bekannt: Viele der 16.250 Objekte im Besitz des USHMM - etwa Kleidung, Schuhe, Koffer, Bücher und andere Habseligkeiten von KZ-Insassen - gehören nicht dem Museum. Als namhafte Wissenschaftler, Historiker und Experten die einzigartige Kollektion vor zwei Jahrzehnten zusammenstellten, schlossen sie oft befristete Leihverträge ab, mit Primärsammlungen und Privatpersonen nicht zuletzt auch in Polen.
Nun laufen diese Verträge aus, und viele polnische Eigentümer fordern ihre Exponate zurück. Allen voran das Museum Auschwitz-Birkenau, das zahllose Artefakte nach Washington abtrat - darunter die Baracke 30.
"Ein Museum mit Selbstachtung gibt geborgte Objekte zurück", sagte Piotr Cywinski, der Direktor des Museums Auschwitz-Birkenau, der polnischen Zeitung "Rzeczpospolita" kürzlich. "Das ist ein Grundprinzip der Branche." Die Baracke habe sich ja auch nicht in Washington befunden, "als Leute ermordet wurden", ergänzte Polens Ex-Außenminister Wladyslaw Bartoszewski, selbst Auschwitz-Überlebender.
Die Museumsgründer in Washington sind entsetzt. "Wenn man beginnt, diese realen Elemente zu entfernen, dann verliert die Ausstellung eine Dimension ihrer Kraft", sagt der Holocaust-Experte Michael Berenbaum, der den Aufbau des USHMM einst als Projektleiter überwachte, zu SPIEGEL ONLINE. "Ich verstehe nicht, was die Polen treibt."
Eine Rückführung oder ein Austausch der Objekte "wäre für die Dauerausstellung des USHMM extrem schädlich", warnt auch der britische Dokumentarfilmer Martin Smith, der die Hauptausstellung mitentwarf und ihr erster Direktor war. Die "Integrität und die Kraft" der Sammlung seien unmittelbar bedroht.
Die jetzige Museumsleitung hält sich bedeckt, da sie noch mitten in den Verhandlungen steckt. USHMM-Sprecherin Jackie Berkowitz bestätigt auf Anfrage nur, dass man 1989 "etliche 20-jährige Leihverträge mit polnischen Institutionen" abgeschlossen habe - in gutem Glauben: "Diese Verträge sahen vor, dass die Leihfristen verlängert werden können."
Neue Gesetze in Polen würden nun aber die Auslieferung der Objekte erzwingen. Das USHMM habe bereits "Tausende Artefakte" zurückgegeben oder Leihverträge für "ähnliche oder identische Exponate" ausgehandelt. Mit anderen Worten: Viele Stücke wurden heimlich ausgetauscht.
Namenlose Koffer als Ersatz
Zum Beispiel ein Stapel staubiger, verbeulter Koffer. Die sind neben einem Bahnwaggon arrangiert, mit dem Häftlinge nach Auschwitz gebracht wurden. Das Nebeneinander - menschliches Reisegepäck, unmenschliches Transportmittel - bezieht seine Wirkung aus der Rückschau: Der Besucher weiß, wohin die Fahrt ging, die Reisenden ahnten aber nichts.
Einige der Koffer trugen Namensschilder, was den Effekt verstärkte. Das USHMM hatte sie schon 1990 von Auschwitz-Birkenau zur Verfügung gestellt bekommen. Irgendwann aber wurden sie gegen namenlose Koffer ausgetauscht.
"Die Namen personalisieren die Geschichte", sagt Berenbaum, der den Austausch bestätigt, über seine damalige Intention. "Es ist die persönliche Geschichte einer realen Person." Der Besucher habe sich mit dem Schicksal der Opfer identifizieren können. Namenlose Koffer böten das aber nicht: "Sie sind viel anonymer."
Viele Bereiche füllt das Museum auch mit eigenem Besitz. Dazwischen aber wimmelt es vor fremden Objekten, nicht nur aus Auschwitz: Häftlingsuniformen, Kleidungsstücke, Thermoskannen, Tassen, Taschen.
Die berühmte, ergreifende Kollektion aus Abertausenden Schuhen etwa, platziert in einem Graben zwischen zwei Sälen, ist eine Leihgabe des Staatlichen Museums Majdanek. "Diese Schuhe sind bildhafte Symbole des Holocaust", erklärte USHMM-Direktorin Sara Bloomfield, als Teile der Originalsammlung in Majdanek 2010 bei einem Brand zerstört wurden. "Für viele Besucher sind die Schuhe der Opfer der unvergesslichste Teil des Museumserlebnisses." Unklar ist, ob sie zu den Objekten gehören, die Polen zurückfordert.
Verschwunden ist jedenfalls das verbeulte Chassis eines Wehrmachts-Lkw, das ebenfalls aus Majdanek kam und inzwischen zurückgegeben wurde - ersatzlos. Stattdessen gibt es jetzt nur eine Fotografie.
Die Besucher bemerken diese Lücken kaum, doch aus Sicht der Experten ändern sie den Ton der Ausstellung. Sie sei "konzipiert wie ein Film, ein tief recherchiertes Buch und eine kräftige, emotionale Symphonie", sagt Smith. Ein Verlust selbst kleinster Objekte sei, "als ob man Kapitel eines Buches oder einen Satz einer Symphonie ausradiert".
Museum sollte "kein Disneyland" sein
Die Baracke 30 ist das größte und wichtigste Exponat, um das gestritten wird - das Museum sperrt sich gegen eine Rückgabe. "Wegen der Größe der Baracke und der Komplexität ihrer Installation wirft eine Entfernung und ein Transport nach Polen besondere Probleme auf", sagt Sprecherin Berkowitz. Tragende Säulen des USHMM waren beim Bau versetzt worden, um der Baracke Platz zu bieten. Sie vermittele "Kraft und Tiefe und Gefühl, was auf diese Weise nicht erreichbar wäre, wenn man sie nicht hätte", sekundiert Berenbaum. Ohne die Baracke wäre es "viel schwieriger", den Besucher anzusprechen.
Doch wie kam das Museum in die Bredouille? Als die Gründer die Sammlung zusammenstellten, suchten sie Originalobjekte statt Kopien: Es sollte "kein Disneyland" sein, so Berenbaum. Die Leihverträge seien im Glauben verhandelt worden, dass das Material auf unbegrenzte Zeit in Washington bleibe. "Wir hatten nie erwartet, dass sie es zurückfordern würden."
Die Museumsleute begründeten diesen Anspruch nicht zuletzt damit, dass die Objekte in den klimatisierten Räumen des USHHM weit besser konserviert würden als in Polen: "Die Bedingungen dort sind nicht zu vergleichen."
Beteiligte der alten Verhandlungen loben, dass Polen seinerzeit "enorm kooperativ" gewesen sei - verweisen zugleich aber darauf, dass das politisch andere Zeiten gewesen seien: "Wir sprachen damals mit Kommunisten." Nun aber setzt Polen knallhart ein Gesetz von 2003 durch, wonach alle Leihgaben regelmäßig "zur Inspektion" zurückgeholt werden müssen - inklusive Objekte aus Auschwitz-Birkenau.
"Ich hoffe inständig, dass die polnische Regierung und das Museum einen Weg finden, die Baracke zur Schau zu stellen", erklärt der Friedensnobelpreisträger und Holocaust-Überlebende Elie Wiesel. "Das Museum ist in seiner jetzigen Verfassung außerordentlich wichtig für uns."