
Politik in der Krise Warum wir eine Einwanderungspartei brauchen


Politiker der Große Koalition: Zuviel Beschäftigung mit sich selbst
Foto: Bernd von Jutrczenka/ dpaDas deutsche Parteiensystem ist deshalb in einer so tiefen, ja existenziellen Krise, weil Form und Inhalt der Parteien nicht mehr übereinstimmen mit der Realität vieler Wähler. Die Welt hat sich geändert, die Parteien kaum. Sie machen weiter, in Struktur, Programm, Kommunikation, als seien die Wähler noch die gleichen, als gebe es den Epochenbruch der Digitalisierung nicht. Sie machen Politik für ein analoges Zeitalter und für Menschen, die ganz woanders sind, als sie vermuten.
Deshalb ist die Ratlosigkeit auch so groß und die gegenseitige Entfremdung. Früher reichte ein Gesicht, ein Satz, ein Sonnenschirm und ein Stand vor der Apotheke, das war die eine Kampagne für alle. Heute ist die Bevölkerung so zersplittert, in verschiedenen Identitäten verhangen, in der einen Frage eher links, in der anderen eher rechts, so dass die Aufteilung auf die Parteien, wie Kartons mit Farben bemalt, nicht mehr funktioniert. Die alten Zuordnungen und Allianzen müssen neu definiert werden.
Politik ohne Politik und Wähler
Die Parteien aber beschäftigen sich mehr mit sich selbst als mit der Wirklichkeit ihrer Wähler. Die CDU windet sich widerwillig unter dem Erbe von Angela Merkel, die von den meisten männlichen Kommentatoren vor allem im Modus der historischen Rückschau betrachtet wird. Was mehr über die Kommentatoren aussagt und ihr Verständnis von Politik als über Angela Merkel oder die CDU, die sich vor den Herausforderungen der Zeit hinter ihr versteckt.
Die CSU macht Politik ohne Politik, was kein guter Weg sein kann für eine demokratische Partei, die keinen Masterplan hat, dafür aber horrende Forderungen, angetrieben von einer Schar von mittelalten Männern, die noch das letzte Kruzifix verscheuern würden, wenn es sie in ihrem haltlosen Machtgegeier weiter bringen würde.
Die SPD weiß überhaupt nicht mehr, wo ihre Wähler sind, und versucht die Arbeiter und Angestellten, die sie selbst vor 20 Jahren durch ihren neoliberalen Turn verscheucht hat, dadurch wiederzugewinnen, dass sie auf linksliberale Kosmopoliten schimpft, von emanzipatorischer Anerkennungspolitik nichts mehr wissen will und noch die letzten Allianzen zertrümmert, auf dem Weg in die Einstelligkeit.
Die Linke kann sich nicht zwischen progressivem und regressivem Linkssein entscheiden und verliert Zeit und Momentum durch Sarah Wagenknechts linke Ausgrenzungsbewegung, die damit beginnt, ganz im Stil der SPD, mögliche Allianzen zu zertrümmern, mit Migranten etwa, mit heimatlosen Linksliberalen, die Lust haben auf Umverteilung, mit Internationalisten.
Die Grünen wiederum versuchen gerade, sich noch stärker als bisher zur Partei des linksliberalen Bürgertums zu machen, indem sie sich in die Mitte bewegen, wo die anderen Parteien viel Raum lassen, weil sie alle nach rechts wandern, ihnen fehlt aber bislang die ökonomische Aggressivität, auch die notwendigen Verteilungsfragen neu zu stellen.
Die FDP definiert Liberalismus als Russlandverstehen und Europa als Nationalinteresse und kann eigentlich nur hoffen, dass die AfD, die Wutpartei, die einzige Innovation im deutschen Parteienspektrum, wirtschaftspolitisch nach links wandert, was in vielerlei Hinsicht fatal wäre, weil das ihrem Ressentiment und Rassismus noch mehr Raum geben würde - außer eben für die FDP, die dann wenigstens den Neoliberalismus für sich hätte.
Politik besteht aus Geschichten
Was bei all dem deutlich wird: Die gesellschaftlichen Fragen und die politischen Antworten stimmen nicht mehr überein, bei Parteien, die vor allem von weißen Gesichtern geprägt sind und auch in dieser Hinsicht weit von der Realität dieses Landes entfernt sind. Wie kann man zum Beispiel über Flucht, Einwanderung, Teilhabe, Identität vor allem im Modus der Angst und der Abgrenzung reden, während genau das, Flucht, Einwanderung, Teilhabe, die Wirklichkeit, das Leben, die tägliche Frage vieler Menschen in Deutschland ist? Oder wie kann man Politik auf das reduzieren, was Mehrheiten bringt, und dabei vergessen, dass Politik aus Geschichten besteht und selbst eine Geschichte erzählen muss, damit sie erfolgreich wird?
Genau das fehlt aber im gegenwärtigen Parteienspektrum: Eine Partei, die diese andere Realität reflektiert und eine andere Geschichte erzählt, eine positive, eine integrative, keine spaltende, eine Geschichte, die von den Möglichkeiten für alle Menschen in diesem Land handelt. Was fehlt, ist eine Partei anderen Zuschnitts, die die anspricht, die sich für ein anderes, für ein offenes, für ein menschliches Deutschland einsetzen. Was fehlt ist eine Einwanderungspartei.
Mehr als 18 Millionen Deutsche haben laut Statistischem Bundesamt ausländische Wurzeln, sechs Millionen Deutsche oder sogar noch mehr haben sich für die Geflüchteten engagiert. Viele dieser Menschen verbindet etwas, nicht alle von ihnen, aber sie alle sehen das Land anders und sehen ihre Sicht nicht gespiegelt, sie hören zu, während andere über sie reden, und reden selbst selten mit, sie fühlen sich oft verloren und heimatlos und passen nicht in die Formate und Formulierungen einer Politik, die mit den Schablonen der Vergangenheit operiert.
Realität der Einwanderungsgesellschaft
Dabei haben sie, dieses Wählerreservoir von weit über 20 Millionen Deutschen, etwas, was vielen anderen fehlt. Sie sind die Engagierten, sie sind die Ankommer, sie sind die Aufsteiger, sie sind die Haderer, sie spüren den Widerstand und den Druck, sie leiden oft, aber sie leben, sie funktionieren nicht nur, sie sind lebendig, sie denken und fühlen, und ihre Geschichten fehlen in dieser Demokratie, die dem eigenen Energiemangel zu erliegen droht.
Eine Partei also, die in den einzelnen Feldern von der Realität der Einwanderungsgesellschaft ausgeht, würde eine andere Bildungspolitik schaffen, offener, experimenteller, besser finanziert, eine andere Industrie-, Steuer- und Finanzpolitik. Kleinteiliger und mit Antworten auf die verschiedenen Globalisierungen, die wir erleben, mehr auf Verstehen als auf Sicherheit ausgerichtet.
Eine solche Partei wäre anders, heterogen, kompliziert, auch in Struktur und Programm unterschiedlich aufgestellt. Sie würde Umverteilung mit Anerkennung verbinden und nicht das eine gegen das andere ausspielen. Sie würde differenzierter kommunizieren, weil sie eine komplexe Realität spiegelt. Sie würde in der Konkurrenz der Narrative, die unterschiedlichen Geschichten als Stärke entdecken. Sie würde endlich aus der Defensive herausfinden, in die all die geraten sind in diesem Land, die weiter an Solidarität, Empathie, Gerechtigkeit und das Gute im Menschen glauben.