Pollesch-Premiere in Hamburg Chor der Thesenschlampen

So schnell kann man die Richtung verlieren: Der Autor und Regisseur René Pollesch präparierte am Hamburger Schauspielhaus aus dem Pubertätsdrama "Mädchen in Uniform" seinen erwartbaren Kapitalismus-Diskurs heraus - und landete im fluffigen Nirgendwo.
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"Mädchen in Uniform": Neoliberales Puppenheim

Foto: Marcus Brandt/ dpa

Aufforderung zum Tanz: Mit Kittelkleid und Holzgewehr rüsten sich "Mädchen in Uniform" für den Gesellschaftskrieg. Nicht sehr elegant, aber zackig und effizient exerzieren sie zu den Klängen von Albert Ketèlbys "Persischem Markt" - ein Bild von einem bestens gedrillten Girl-Bataillon perlt über die Bühne. Showtime am Schauspielhaus! Und so adrett, wie Autor und Regisseur René Pollesch sie alle in Stellung bringt, wird aus diesem Arrangement mal wieder eines seiner launigen, soziokulturellen Scharmützel über Zurüstungen fürs Leben. Denn es ist Ausbildung, die zählt: "Exaltierte Künstlerinnen - die werden da draußen gebraucht", schallt es vollironisch von der Bühne. Willkommen an der Pollesch-Akademie für angewandte Stimulanzproduktion: noch so ein schöner, glattgehobelter Begriff, frisch in die Debatte geworfen.

René Polleschs politisches Diskurs-Theater ist erprobt in der Verwendung vorhandener Formen und medialer Folien - diesmal startet er seine philosophische Revue von der Rampe eines klassischen Pubertätsdramas: Christa Winsloes "Mädchen in Uniform" bekommen von Pollesch am Hamburger Schauspielhaus neues dramaturgisches Outfit. Und die Riesenbühne wird mit viel Naturholz und Baumarkt-Charme zu einem Puppenheim des neoliberalen Spätkapitalismus. Die ideellen Stützbalken stammen diesmal unter anderem aus der Manufaktur des italienischen Philosophen und Kunsttheoretikers Giorgio Agamben, Jahrgang 1942, der schon in seinem ersten Werk 1970 die Debatten als Teil des Kunstwerkes ausgemacht hat. Da ist er bei Pollesch an den Richtigen geraten.

Sprechattacke in Rudelgestalt

Polleschs "Mädchen" erinnern naturgemäß wenig an die heimelige Lovestory zwischen Romy Schneider und Lilli Palmer, die in der Verfilmung von 1958 das Kinopublikum rührte. Auch so eine Stimulanzproduktion. Und dennoch: Sophie Rois, Polleschs regelmäßige Hauptdarstellerin, trotzt dem kopflastigen Kontext wie stets komische Momente ab - und spielt beinahe romantische Szenen mit dem Mädchen-Ensemble, das mit militärisch-zackiger Präzision den Part der theoriedurchpulsten Thesenschlampen gibt. Ja, noch ein Chor: Der vielstimmig formatierten Sprechattacke kann man in diesen Theater-Tagen kaum entgehen, die Suggestivkraft kollektiver Ansage verlockt doch zu sehr, wenn es um Inhalte und Dialektik geht. Keine Frage, dass Pollesch diese wohlfeilen Formen ironisch unterläuft: Wir sind hier nicht im Volkshochschultheater eines Volker Lösch. Außerdem legt Pollesch Wert auf quirlige Bewegungsarrangements (Choreografie: Brigitte Cuvelier), mit denen der Mädels-Chor ständig neu positioniert wird.

Pollesch lässt die Rollen munter durcheinander purzeln: Mal spielt Sophie Rois Lehrerin, mal Schülerin, der Chor der Mädchen schnurrt zu einer Person zusammen, alles in rasendem Wechsel, immer präzise durchkomponiert. Der Zuschauer wird virtuos verwirrt, aber nie genarrt oder gar erschüttert. Auch das Bühnenspiel selbst wird Thema, das Sujet Ausbildung und Drill variiert Pollesch ständig auf der Theorie-Ebene, eine Technik, die der Autor für sein Theater der Debatte perfektioniert hat. Allerdings erreicht er mit den "Mädchen" nie die Brillanz und burleske Perfektion wie etwa in seinem Stück "Fantasma", das sich über erheblich mehr Ebenen hangelte und schwindelig machende Bilder produzierte.

Grande Dame des Diskurses

So kitzelt anfangs nur der Umgang mit der Bühne, die Pollesch gleich am Anfang zum Thema erhebt: Der Vorhang geht auf und öffnet den Blick auf eine wabernde Spiegelwand, die den Zuschauerraum reflektiert. Polleschs Stück beginnt mit dem Ende eines anderen Stückes, nach der Methode Bühne-auf-der-Bühne. "Ich habe völlig die Orientierung verloren!" startet Sophie Rois als Lehrerin und Spielleiterin. Sie sucht ihr Publikum - denn sie hat eine ganze Vorstellung lang mit dem Rücken zum Saal gespielt. Shit happens, aber es geht hier ja nicht um Pannen, sondern ums Kunstwerk, dass sich aus dem dialektischen Spiel zwischen Künstler und Gesellschaft erst entwickelt. Da gibt es keinen Anfang und kein Ende, das Leben ist ein Prozess wie die Kunstrezeption, und wir sind mittendrin. Logisch, dass so ein Diskurs keinen wirklichen Anfang und erst recht kein schlüssiges Ende hat. Nach einer Stunde Spielzeit stehen die "Mädchen" zwar ohne Uniform da, aber auch ohne Ziel: ein Schluss wie ein Schuss aus dem Holzgewehr. Merke: Man tut am besten so, als ob. Und am Ende sind wir wieder im Anfang oder: in einem gewissen, fluffigen Nichts.

Neben der routiniert und rasend agierenden Sophie Rois sekundierten der Grande-Diskurs-Dame die Gouvernanten Christine Groß und Ballettmeisterin Brigitte Cuvelier, die aber nicht mehr als adrette Stichwortgeberinnen für Rois waren. Da muss schon ein Chor ran, um mit Rois zu rangeln: Das nette, sublime Catfight-Gezerre in einer Szene ist dann auch schon alles, was von der koketten Erotik des Originals geblieben ist. Am Ende gab's Beifall vom bestens aufgelegten Publikum, das einen kurzen, aber knackigen Pollesch-Abend abfeierte. Auch das nur kurz, aber immerhin lautstark.

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