Premiere "Telefonbuch von Hamburg" Heiße Rufnummern-Revue

Wenn jemand allen Ernstes das "Telefonbuch von Hamburg" auf die Bühne bringt, klingt das arg nach Studentenulk. Doch im Hamburger Schauspielhaus stellte sich der Witz ein: Wer hätte gedacht, wie komisch "Müller" klingen kann.

Von guten Schauspielern sagt man gern: Der könnte sogar das Telefonbuch vorlesen! Mag was dran sein. Aber ehrlich: Nach ein paar Minuten wäre der Gag erledigt. Regisseur Philip Tiedemann hält am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg immerhin über eine Stunde durch. Seine Inszenierung des im Großen und Ganzen eher drögen "Telefonbuchs von Hamburg" geriet erstaunlich witzig und kurzweilig. Na gut: Er hat auch einiges gestrichen.

Und er ließ komponieren: Mit Musik - noch so eine Bühnenweisheit - geht bekanntlich alles besser - auch wenn das Werk am Anfang im feierlichen Stil einer lateinischen Messe zelebriert wird. Aber wie will man die schicksalsschweren Notrufnummern auch sonst darbieten!

Danach wird's lockerer: Ein befracktes Sextett mit schlaumeierndem Vor-Sprecher und Pianisten betritt die kleine, halbrunde Bühne und startet die Telefonbuch-Messe mit stimmlicher Grandezza. Wer hätte gedacht, dass sich im Ensemble des Schauspielhauses die Nachfahren der Comedian Harmonists verbergen? Drei weibliche Stimmen, drei männliche hangeln sich durch Gesang und Sprechstück-Artistik, Lautmalerei und Geräusch-Ästhetik, dass es eine onomatopoetische Lust ist.

Dada mit Korsett

Ach ja, die Namen und Fimen: Es sind tatsächlich die Fundstücke im Druckwerk Telefonbuch, die fein arrangiert und seziert, gedehnt und verkürzt durch den musikalischen Kakao gezogen werden. Irgendwo zwischen Musical, Loriot und Ligeti klingt das, angereichert durch eine sanfte Choreographie, denn ein bisschen Regie muss ja trotz aller Klang-Finesse schon sein. Die Fräcke sausen zu ihren Stehpulten, man knipst Lampen ein und aus, formiert sich zu menschlichen Stillleben. Die Musik ist der Star, es "passiert" nichts, natürlich. So ein Telefonbuch ist ja eher handlungsarm.

Zu den Namen, die mit "Li" anfangen, also vermutlich Asiatisches bergen, wird gegongt und fernöstlich-kitschig gesunden, bei "Ficken" und "Geil" - bloß keinen Gag verschenken! - wird sonor und pikiert grimassiert und zu großer Form läuft das Ensemble beim Buchstaben "M" auf: Meier und Müller, die ganz großen Abräumer in allen Telefonbüchern! Das fetzt, und allein die verschiedenen Schreibweisen liefern akustische Gags in Fülle.

Matthias Trippner, der Bühnenmusiker, spielt neben einer Fülle von Rhythmen auch immer wieder bekannte, meist schon nostalgisch klingende Telefontöne ein. Stimmen und Sound mischen sich zu einer telefonistischen Harmonie zwischen Ordnung und Beliebigkeit, die zuweilen entzückt. Aber auch manchmal nervt, denn ein paar Gags sind einfach, weil's den Akteuren so viel Spaß machte, zu breit getreten. Dazu, so scheint es, traute Regisseur Tiedemann seinem Dada-mit-Korsett-Konzept nicht ganz, denn oft tritt so eine Art Conferencier (routiniert: Jürgen Uter) auf, der erklärt und schulmeistert, damit das Lachen nicht zu laut wird und das Publikum ab und zu auch etwas lernt.

Eine werktreue Inszenierung

Doch der Spaß überwiegt - auch bei den Sängern/Schauspielern: So viel perfektes Timing, so viel punktgenaue Wirkung, die federleicht anmutet, erzielt man eigentlich nur mit Hingabe. Und wenn's an Zahlen, Daten und Namen ist.

Die drei weiblichen (Claudia Jahn, Anne Schieber, Maja Schöne) und männlichen Virtuosen (Gernot Grünewald, Uli Pleßmann, Kai Schumann) jubilieren und trällern, als sängen sie von den letzten Dingen. Und die kommen tatsächlich beim Buchstaben "Z", in diesen Dingen ist die Inszenierung entschieden werktreu.

Nach einer guten Stunde allerdings war die Sache dann durchgespielt: Auch der beste Einfall hat sein Verfallsdatum. Ein netter Spaß war's, der allerdings ebenso gut in einem Reeperbahn-Varieté sein passendes Ambiente gefunden hätte, nicht unbedingt auf im Deutschen Schauspielhaus.

Aber diesen Jux wollten sich Regisseur Tiedemann und Intendant Friedrich Schirmer schon in der vergangenen Saison machen, als Kontrast zur Fußball-WM. Aber da wäre der nette Spaß womöglich komplett untergegangen. Und ein wenig Spaß kann das Schauspielhaus zur neuen Saison durchaus vertragen, und wenn's nur einer ist, wie er im Buche steht. Fröhlicher Beifall fürs ganze Team.

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