Pressefreiheit Bundesregierung will nicht gegen "Caroline-Urteil" vorgehen

Die Bundesregierung wird nicht gegen das so genannte "Caroline-Urteil" des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vorgehen. Zahlreiche Medienvertreter hatten aus Angst um die Pressefreiheit an Bundeskanzler Gerhard Schröder appelliert, in Straßburg gegen die Entscheidung Einspruch zu erheben.

Berlin - Das Regierungs-Kabinett hatte sich am Mittwochvormittag zur planmäßigen Sitzung getroffen, die Beratung über das Straßburger "Caroline-Urteil" stand unter "Vermischtes" auf der Tagesordnung. Am Mittag teilte Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) mit, dass die Regierung keinen Einspruch gegen die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschrechte einlegen werde, die Rechte öffentlicher Personen an Bildern aus ihrem Privatleben zu stärken.

"Das Kabinett hat entschieden, dass es keinen Anlass sieht, dagegen Rechtsmittel einzulegen", sagte Zypries und wies darauf hin, dass das Urteil keine bindende Wirkung für deutsche Gerichte habe, da sie in der Normenhierarchie unter der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stünde, das in der betreffenden Sache anders entschieden habe. Die deutschen Gerichte müssten die Entscheidung zwar beachten, müssten ihr aber nicht folgen. Aus diesem Grund habe die Bundesregierung entschieden, von der Einlegung von Rechtsmitteln abzusehen, da es auch einem anderen Urteil ebenso an bindender Wirkung fehlen würde.

Von dem Straßburger Urteil sei zudem die Berichterstattung über Politiker zunächst nicht betroffen, so Zypries. Somit sei auch in Zukunft die investigative Berichterstattung über Affären von Amtsträgern nicht gefährdet. Die Entscheidung der Europa-Richter sei lediglich "ein Beitrag zur Diskussion, wie die Grenzen zwischen Pressefreiheit und Persönlichkeitsrecht verlaufen". Es bleibe dabei, dass juristisch in Deutschland das Bundesverfassungsgericht das letzte Wort habe, auch wenn sich die hiesigen Gerichte mit dem Straßburger Urteil auseinandersetzen müssten.

Zypries betonte in ihrer Erklärung, dass "manche Behauptung", man dürfe nicht mehr über Fehlverhalten von Politikern berichten, "jeder Grundlage entbehrt". Die Berichterstattung könne auch den "privaten Bereich" von Politikern betreffen. Insofern könne man sicherlich nicht dem Kabinett den Vorwurf machen, es wolle Politiker besonders schützen, indem es das Urteil akzeptiere. Auf der anderen Seite sei aber im Kabinett durchaus die Tatsache "zur Kenntnis genommen worden, dass die Entscheidung die Persönlichkeitsrechte stärkt". Der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger (BDZV) forderte das Kabinett auf, die Entscheidung zu überdenken und doch noch Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einzulegen. "Das Urteil ist letztendlich ein Freibrief für Zensur", sagte ein BDZV-Sprecher am Mittwoch. Wenn über Fehlverhalten von Personen der Zeitgeschichte wie prominente Schauspieler, Sportler, Künstler sowie Politiker und Repräsentanten der Wirtschaft nicht mehr umfassend und schonungslos berichtet werden dürfte, sei die Wächterfunktion der Presse ad absurdum geführt.

Zahlreiche Medienvertreter, darunter die Zeitschriftenverleger sowie 60 Chefredakteure deutscher Zeitungen, hatten bereits in den verganenen Tagen öffentlich an Bundeskanzler Gerhard Schröder appelliert, gegen das Urteil der Europa-Richter vorzugehen. Sie sehen nicht nur die bunten Klatsch-Reportagen der Boulevard-Presse in Gefahr, sondern fürchten vor allem um die künftige Möglichkeit, Affären wie den "Sause-Skandal" des ehemaligen Bundesbankchefs Ernst Welteke zu enthüllen.

Der Medienrechtler Christian Schertz hält diese Befürchtung für übertrieben. Er sehe im "Caroline-Urteil" keine Gefahr für die Pressefreiheit. "Diejenigen, die das behaupten, haben das Urteil nicht wirklich gelesen", sagte er gegenüber der Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit".

Schertz, der an der Freien Universität Berlin lehrt, vertritt als Anwalt unter anderen die Freundin von Bundesaußenminister Joschka Fischer im Prozess gegen eine Illustrierte. In dem Interview widerspricht er der Meinung der Chefredakteure, dass nach dem Straßburger Urteil etwa Fotos des früheren Verteidigungsministers Rudolf Scharping beim Einkauf gemeinsam mit dem PR-Berater Moritz Hunzinger verboten wären. Nach Berichten über den angeblich von Hunzinger finanzierten Einkauf war Scharping zurückgetreten. "Gerade Fotos, die den Minister Scharping beim Zusammentreffen mit Hunzinger gezeigt hätten, wären auch nach der Straßburger Entscheidung, wenn man sie genau liest, nach wie vor zulässig." Derartiges Bildmaterial wäre von "erheblichem öffentlichen Interesse" und hätte "nichts mit dem privaten Alltag von Herrn Scharping zu tun".

Nach Ansicht von Schertz geht es in dem Urteil nicht um Zensur: "Verboten sollen nur Paparazzi-Bilder von Prominenten sein, die keinen weitergehenden Informationswert enthalten, als dass ihr privater Alltag abgebildet wird. Sind mit dem Bild hingegen legitime Informationsinteressen der Öffentlichkeit berührt, darf man es wie bisher veröffentlichen." In Straßburg hatte sich Prinzessin Caroline von Monaco mit ihrer Klage gegen die Veröffentlichung von Fotos durchgesetzt, die sie beim Einkaufen und Reiten zeigten.

Wesentlich für die Auswirkungen des Straßburger Urteils im Einzelfall ist laut Schertz das "mediale Vorverhalten der Beteiligten". Wer sein Privatleben vermarktet habe, verliere befristet das Recht auf Schutz. "Das Eigenverhalten definiert auch den Rechtsschutz. Wer die Tür gerne aufmacht, hat auf Zeit das Recht verwirkt, sie nach Belieben wieder zu schließen."

Die Bundesjustizministerin räumte ein, dass die Bundesrepublik auf längere Sicht gesetzgeberisch handeln müsse, wenn die Rechtsprechung deutscher Gerichte und die des Europäischen Gerichtshofs weiter nicht im Einklang stünden. Es gebe eine entsprechende völkerrechtliche Verpflichtung Deutschlands.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten