Putschversuch in der Türkei Der Fluch

Ein unbekannter Erdogan-Anhänger prügelt nach dem Putschversuch Soldaten
Foto: Gokhan Tan/ Getty Images
Perihan Magden, Jahrgang 1960, ist eine der wichtigsten Schriftstellerinnen der jüngeren türkischen Literatur. Große Bekanntheit erlangte sie durch ihre umstrittenen Kolumnen in der Zeitung "Radikal". Für ihre regierungskritischen Artikel und provozierenden Ansichten wird sie in der Türkei geliebt, gehasst und verklagt. Ihre sechs Romane waren in der Türkei Bestseller, vier davon wurden ins Deutsche übersetzt: "Ali und Ramazan" (2011), "Wovor wir fliehen" (2010), "Zwei Mädchen. Istanbul Story" (2008) und "Botenkindermorde" (2001). Magden lebt in Istanbul.
Die Türkei ist schon lange ein Land, in dem es, wenn du denkst: "Das ist das Schlimmste, das ist der absolute Tiefpunkt", noch schlimmer kommt. Sogar sehr viel schlimmer.
Als also alles schon bedrückend war, gab es bei uns einen Putschversuch. Einen Putschversuch mit schweren Folgen. Viele wurden verletzt und getötet, Armeekommandanten als Geiseln genommen, es fielen Bomben. Und Erdogan forderte seine Leute auf, die Straßen einzunehmen, den Coup niederzuschlagen, die Demokratie zu retten.
Ich nutze den Ausdruck seine Leute, weil nur Erdogans überzeugte Anhänger die Straßen einnahmen. Der Rest der Türkei war still, betete und hoffte auf das Beste. Die Straßen waren voll. Voll von Männern mit Schlachtermessern, mit Dolchen, mit Gürteln, die sie zum Prügeln nutzten. Mit Männern, die eher gefährlich aussahen. Sie sahen mehr nach IS-Kämpfern als nach Kämpfern für die Demokratie aus! Und sie retteten nur eine bestimmte Art der Demokratie: die von Erdogan, die immer weniger vereinbar ist mit westlichen Standards.
Nicht die Mehrheit der Bevölkerung stoppte den Putsch
Es scheint, als dachten die Umstürzler, der Rest der Armee würde ihnen beistehen - aber das tat er nicht. Es scheint, als dachten die Umstürzler, die Mehrheit der türkischen Bevölkerung würde die Straßen wieder an sich nehmen, zurückerobern - aber das geschah nicht. Sie zählten auf den Erdogan-Hass und blieben mit leeren Händen zurück.
Egal, welche Wahrheiten Erdogans Propagandamaschinen produzieren - es waren nicht große Mehrheiten der Bevölkerung, die den Coup stoppten. Die türkische Armee stoppte ihn, weil sie sich den Umstürzlern nicht anschloss. Die Mehrheit der türkischen Armee zog unsere jetzige Demokratie einer militärischen Übernahme vor.
Eine zentrale Phrase der letzten Zeit ist "parallele Struktur". Das klingt seltsam, unheimlich. Nach einer Kafka-Erzählung oder nach Science-Fiction. Aber in den vergangenen zwei Jahren ist alles, was passierte, der Gülen-Bewegung zugeschrieben wurden, die als "parallele Struktur" tituliert wird. Auch der Putschversuch soll von der Gülen-Bewegung ausgeführt worden sein. Jetzt besteht Erdogan darauf, dass die USA Fethullah Gülen an die Türkei ausliefern;.
Auch mein Name ist dabei
Vielleicht ist Gülen verantwortlich für den Putsch. Vielleicht auch nicht; wir wissen derzeit vieles nicht. Fakt ist nur, dass Erdogan sich als Sieger inszeniert und mit viel Kraft versucht, den Putschversuch für seinen Kurs der kompletten Dominanz zu nutzen. Hunderte von Staatsanwälten und Richtern sind schon ihrer Ämter enthoben. Tausende Regierungsoffiziere haben ihren Job verloren: im Innenministerium, im Finanzministerium, alle Arten von Posten. Viele Namen von Journalisten wurden auf einer öffentlichen Liste gesammelt, mit der Forderung, wir sollten verhaftet werden. Auch mein Name ist dabei.
Sichtbar ist im Moment nur der Nutzen, den Erdogan aus dem Putschversuch zieht. Sein Premier Binali Yildirim sagte: "Wenn das Volk die Todesstrafe wieder einführen will, bringen wir sie wieder." Erdogan sagte: "Wenn das Parlament zu einer Änderung bereit ist, werde ich als Präsident die Entscheidung des Parlamentes billigen."
Heutzutage ist in der Türkei alles voll Fäulnis
Wer sind diese Menschen, die die Todesstrafe wieder einführen wollen? Erdogans Anhänger! Ja, er wurde gewählt. Ja, wir haben ein Parlament. Aber immer häufiger sind es seine Wähler, seine Anhänger, die alles entscheiden. Seine Regierung wird so mehr und mehr eine Mehrheitsdiktatur: Seine Wähler, ihre Empfindungen, ihre Vorstellungen von Religion regieren, während wir gezwungen sind, still zu sein. Oder, während Erdogan komplett allein herrscht, und seine Wähler ihm huldigen und applaudieren.
Die AKP und der Erdogan der ersten Jahre sind lange her. Von 2002 bis 2009 konnten wir Demokratie atmen. Die AKP war damals erpicht auf den EU-Beitritt. Sie setze Reformen um, änderte Gesetze, um sich anzupassen.
Wenn sich die türkische Demokratie am Westen orientiert, bringt sie Freiheit. Meinungsfreiheit, ökonomische Entwicklung, liberale Politik. Sie bringt auch ein wahreres, ein wahrhaftigeres Leben. Das ist das, was zählt. Die türkische Kultur weicht dieser Wahrheit jetzt aus. Und dann beginnen Dinge zu verfaulen. Mehr und Mehr. Heutzutage ist in der Türkei alles voll Fäulnis. Und der Putschversuch war wie ein Fluch.
Was auch immer noch übrig ist vom Justizsystem, von Freiheit, wird bald komplett unterdrückt. Wir sind daran gebunden, so zu werden, wie viele Länder des Mittleren Ostens.
Erdogan will der allherrschende Führer werden. Er weiß sehr gut, dass das nur möglich ist, wenn er westliche Werte unterdrückt. Deshalb wird er es tun. Ganz bestimmt.