

Digitale Informationsflut Der Horror im Sekundentakt


Kursbeobachtung nach Feierabend
Foto: Alex Hofford/ dpaIch bin internetsüchtig und bilde mir auch ein, dass ich damit weit vorn bin. Evolutionärer Vorsprung als User. Ich weiß weder, wie ein Computer von innen aussieht, noch, wie das Internet funktioniert. Aber ich use. Wie die meisten.
Den gesamten Tag, neben der Arbeit, sehe ich Schachspiele, neue Roboter, lese über Megacitys und Precise Farming. Aber vornehmlich - über den kommenden Börsencrash, Nazis, Trump, die Sorgen Hamed Abdel-Samads, ich lese über die Klimakatastrophe, den Aufkauf Afrikas durch chinesische Firmen oder Rentner, den Ghost-Roaming-Trick der Netzanbieter, die Spekulation mit Wasser, Nahrungsmitteln und maybe Luft.
Ich lese so viel Bedrohliches, dass ich abends vor Angst erstarrt bin und erst einmal gurgeln muss. Dann gurgle ich. Ist der obsessive Nachrichtenkonsum so etwas wie die Gehirnwäsche bei Islamfundis? Befinden wir uns alle in einem theoretischen Kriegszustand, weil unsere Gehirne permanent mit Nachrichten überflutet werden, die am Ende darauf hinauslaufen, dass alle der Feind sind?
Wenn man einen Probanden in eine Zelle sperrt und ihn 24 Stunden mit Horrornachrichten konfrontiert, wird ihn das vermutlich fundamental verunsichern. Je nach Charakter reagiert der Proband gelähmt oder wütend. Meist beides in Kombination mit einer kolossalen Weltangst. Der Proband ist geneigt, nach einem starken Führer zu suchen, nach einem Ausweg aus der gefühlten Bedrohung seines Lebens. Dann kommt Allah ins Spiel oder ein anderer Typ mit klaren Ansagen. Der Proband wird - kaum dem Versuch entkommen - nach einer Kompensation suchen, nach einer Verankerung in der unsicheren Welt.
Der Horror wird im Sekundentakt in mein System geflutet
Das geht am schnellsten mit Konsum. Etwas kaufen, das real ist, gegen das unfassbare Grauen im Kopf. Und wenn das nicht möglich ist, dann eben krank werden, eine Psychose entwickeln, Medikamente nehmen gegen die angenommene Unperfektion. Geht man davon aus, dass inzwischen sehr viele Nachrichten im Netz von Bots gestreut werden, dass Bilder manipuliert werden, dann ist es schon fast wieder lustig.
Algorithmen werten das Pfund ab, Bots berichten darüber, und wir drehen durch. Der Energieaufwand, sich am Ende eines Tages klar zu machen, dass man an den realen oder unrealen Widerwärtigkeiten in der Welt wenig ändern kann, weil selbst absolute Superhirne nur in ihrem Kosmos einen kleinen Einfluss auf das große Ganze haben, ist ein gewaltiger.
Der Horror, der im Sekundentakt in mein System geflutet wird, wo ist der eigentlich, wenn ich in - sagen wir - Italien bin, wo ich - sagen wir - nur einmal am Tag online bin, um die Mails zu betrachten. Möglich wäre, dass die Welt schon immer genauso war wie jetzt. Ungerecht, grausam, widerwärtig, nur dass wir es damals nicht erfahren haben, nur dass es immer schwerer wird, heute das Positive zu finden, das Gegengewicht. Das nicht darin besteht, dass man sich andere User sucht, die die eigene Beschränktheit teilen, sondern vielleicht mit einer Informationsdiät, die man als Kopf-in-den-Sand-stecken bezeichnen kann. Aber mal ehrlich, ob unsere Köpfe im Sand verborgen sind oder nicht, ist in schwindelerregendem Ausmaß unwichtig. Außer für die eigene Entspannung.

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