
Polizeigewalt in den USA: Verfolgt, verhaftet, getötet
Rassistische US-Polizeitaktik "Ein unvorstellbares Maß an Gewalt"

Alice Goffman, Jahrgang 1982, arbeitet als Soziologin an der Universität von Wisconsin in Madison. Ihr Buch "On the Run", das soeben auf Deutsch erschienen ist, ist das Ergebnis einer mehrjährigen teilnehmenden Beobachtung in einem Schwarzenviertel in Philadelphia. Goffman erzählt darin aus dem Alltag kriminalisierter Jugendlicher - und berichtet, was das ständige Risiko der Kontrolle und Verhaftung für Familien, Beziehungen und Wirtschaftsleben bedeutet.
SPIEGEL ONLINE: Frau Goffman, seit einigen Monaten machen Polizeiangriffe auf schwarze US-Amerikaner Schlagzeilen. Sie haben in einem Schwarzenviertel in Philadelphia gelebt und dort zu Kriminalität und Strafverfolgung geforscht. Können Sie erklären, was in den USA gerade vorgeht?
Goffman: Polizeigewalt gegen Schwarze ist kein neues Phänomen und nichts, was bloß in ein oder zwei Städten passiert. Es geschieht quer durch die USA und seit langer Zeit. Die Polizei in Philadelphia hat neulich einen Bericht veröffentlicht, der das verdeutlicht: Demnach haben Polizisten in dieser Stadt in den vergangenen Jahren im Schnitt jede Woche auf jemanden geschossen - und dieser Jemand war in 80 Prozent der Fälle schwarz. Während meiner Studien in Philadelphia habe ich fast jeden Tag beobachtet, wie Polizisten junge Schwarze auch nach der Festnahme noch geschlagen oder getreten haben. Es gibt ein Maß an Gewalt, das fast unvorstellbar ist, wenn man es nicht selbst erlebt oder zumindest selbst gesehen hat.
SPIEGEL ONLINE: Im April wurde die Erschießung von Walter Scott bekannt. Auf YouTube ist zu sehen, wie ein Polizeibeamter ihm acht Mal aus geringer Distanz in den Rücken schießt, während Scott wegzulaufen versucht. Sie sagen, diese Brutalität sei nichts Ungewöhnliches?
Goffman: Seit rund 40 Jahren herrscht in den USA eine Politik des harten Durchgreifens. In den Sechziger- und Siebzigerjahren sind die Kriminalitätsraten gestiegen. Seitdem überbieten sich linke wie rechte Politiker darin, möglichst hart gegen Kriminalität vorzugehen. Die gängige Annahme ist, dass man größere Vergehen verhindert, wenn man kleinere hart bestraft. Wir haben also das Strafmaß für Drogendelikte und für Gewaltverbrechen erhöht und die Haftdauern verlängert. Wir haben massenhaft neue Polizisten eingestellt und jene befördert, die möglichst viele Menschen festgenommen haben. Die Anzahl der Inhaftierten ist in dieser Zeit um 700 Prozent gestiegen. Heute gibt es nirgendwo in der Welt so viele Gefangene wie in den USA. Um genau zu sein, passen wir nicht mal mehr auf dieselbe Skala wie andere Länder. Dieses System verursacht hohe Kosten, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch psychologisch, menschlich.
SPIEGEL ONLINE: Wieso leistet sich ein Land, das Freiheit liebt und Steuern hasst, das teuerste Justizvollzugsystem der Welt?
Goffman: Um das zu verstehen, müssen Sie sich die Geschichte des Rassismus in den USA anschauen. Jahrhundertelang waren Schwarze bei uns Bürger zweiter Klasse. Das hörte auch mit der Abschaffung der Sklaverei nicht auf, denn danach gab es die staatlich durchgesetzte Segregation im Arbeits- und Wohnungsmarkt, getrennte Wasserhähne und alle möglichen Maßnahmen, um Schwarze von Wahlen fernzuhalten. Echte Verbesserungen erzielte erst die Bürgerrechtsbewegung der Sechzigerjahre. Unmittelbar danach begann das massenhafte Wegsperren, das bis heute in erster Linie Schwarze und Latinos trifft. Wir können die Masseninhaftierungen als neue Stütze des rassistischen Kastenwesens deuten, das seit Beginn der amerikanischen Geschichte existiert. Dieses Kastenwesen ist stärker als der Wunsch nach niedrigen Steuern und weniger Bürokratie.
SPIEGEL ONLINE: Warum setzen Sie hartes Vorgehen gegen Kriminalität mit hartem Vorgehen gegen Schwarze gleich?
Goffman: In dem Viertel in Philadelphia, das ich untersucht habe, waren Festnahmen ein Teil des Alltags. Kinder spielten sie nach; Jugendliche lernten von ihren älteren Brüdern, wie man vor der Polizei davonrennt. Das steht in keinem Verhältnis zu dem weißen Mittelschichtsviertel, in dem ich aufgewachsen bin. Ich wurde als Jugendliche nie von der Polizei angehalten und auf Drogen durchsucht. Selbst wenn einer von uns beim Ladendiebstahl erwischt wurde, kam nur selten ein Polizist vorbei, der dann ein paar strenge Worte sprach und wieder verschwand. Die Null-Toleranz-Politik zielt stark auf Schwarzenviertel ab. Das ist etwas, das Polizisten in meinen Befragungen gar nicht bestritten haben. Sie sehen Schwarze nicht als Menschen mit den gleichen Rechten wie Weiße.
SPIEGEL ONLINE: Wie kann das sein? Das ist mit der Verfassung der USA nicht vereinbar.
Goffman: Es hat immer einen Widerspruch gegeben zwischen den Versprechen von Freiheit, Gleichheit und Erfolg durch harte Arbeit einerseits und dem rassistischen Kastenwesen andererseits. Das ist die Krux der amerikanischen Gesellschaft.
SPIEGEL ONLINE: Sie schreiben in Ihrem Buch "On the Run", dass die Polizei sich in Schwarzenvierteln wie eine Besatzungsmacht benehme. Können Sie das erklären?
Goffman: Sie müssen sich das vorstellen wie einen Mini-Polizeistaat inmitten der liberalen Demokratie. Die Polizei ist sehr präsent, aber sie ist nicht dort, um den Menschen zu helfen, sondern um sie festzunehmen. Gegen viele Leute, die dort leben, liegen verschiedene Formen von Haft- oder Durchsuchungsbefehlen vor. Laut einer nationalen Datenbank gibt es 2,3 Millionen solcher "warrants" in den USA, 60 Prozent davon wegen technischer Vergehen wie säumiger Geldstrafen oder Gebühren. Wenn die Betroffenen in eine Polizeikontrolle geraten, werden sie festgenommen. Deshalb sind sie permanent auf der Flucht vor der Polizei und zwar ganz wörtlich: Sie fangen an zu rennen, wenn Polizisten auftauchen. Wenn sie Probleme mit anderen haben, rufen sie nicht die Polizei - aus Angst, selbst festgenommen zu werden.
SPIEGEL ONLINE: Auf der Flucht ist aber nur, wer gegen Regeln verstoßen hat…
Goffman: Nein, nicht unbedingt. Wenn Sie etwa auf Bewährung sind und von der Polizei aufgegriffen werden, dann gilt das allein oft schon als eine Verletzung der Bewährungsauflagen. Selbst dann, wenn sich die Gründe für die Festnahme im Nachhinein als nichtig erweisen.
SPIEGEL ONLINE: Trotzdem: Im Zentrum Ihres Buches "On the Run" stehen die "6th Street Boys", eine Gruppe junger Männer, die in den Drogenhandel verstrickt sind, die Waffen besitzen und in Schlägereien geraten. Inwieweit ist die Erfahrung dieser Kriminellen repräsentativ für ihr ganzes Viertel?
Goffman: Es ist wichtig zu verstehen, dass diese Kriminalität eine Folge der Armut ist. Chuck, einer der Jungen, die ich begleitet habe, begann mit 13 Jahren für einen Drogendealer zu arbeiten. Dadurch war er das erste Mal in der Lage, regelmäßige Mahlzeiten für sich und seinen jüngeren Bruder Tim zu kaufen. Sie können die Leute in meinem Buch als Kriminelle bezeichnen, die kriegen, was sie verdienen. Ich finde aber, dass es niemand verdient hat, in solchen Umständen aufzuwachsen. Eine meiner Umfragen im Viertel ergab, dass 65 Prozent der Männer dort rechtliche Probleme der einen oder anderen Art haben. Ich schreibe also nicht nur über ein paar schwarze Schafe.
SPIEGEL ONLINE: Der deutsche Untertitel Ihres Buches lautet: "Die Kriminalisierung der Armen in Amerika." Was ist das größere Problem: Armut oder Rassismus?
Goffman: Beides spielt eine Rolle. Schwarze haben ein höheres Armutsrisiko, unter anderem bedingt durch Rassismus. Die Leute, die massenhaft weggesperrt werden, gehen auf die am schlechtesten ausgestatteten Schulen des Landes und leben in Vierteln, in denen niemand mehr investiert. Diese Armut, die vor allem Schwarze betrifft, gibt es in den USA schon lange. Doch in den Siebzigerjahren haben wir ein zusätzliches Problem geschaffen mit einem Polizeisystem, das arme, schwarze Männer als seine Feinde betrachtet. Die Armut wird dadurch noch verschärft, weil wir junge Männer aus den Schulen reißen und in Gefängnisse stecken.
SPIEGEL ONLINE: Welches Bewusstsein gibt es dafür im politischen Diskurs der USA?
Goffman: Es gibt eine Debatte über Strafrechtsreformen, die schon vor Ferguson begonnen hat. Zuerst wurde die Rolle der Polizei dabei nicht wirklich angesprochen. Nach Ferguson kann niemand mehr das Problem der Polizeigewalt ignorieren. Teilweise hat das auch mit der Ausbreitung von Handykameras zu tun. Früher haben Staatsanwälte den Aussagen der Polizisten geglaubt. Jetzt gibt es mehr und mehr Videobeweise der routinemäßigen Gewalt.
SPIEGEL ONLINE: Ist eine Polizei, die zur "routinemäßigen Gewalt" neigt, überhaupt reformfähig?
Goffman: Es ist nicht so, dass die Polizisten machen, was sie wollen. Sie taten, was wir von ihnen verlangten. Sie handelten gemäß der Null-Toleranz-Philosophie. In Ferguson, Baltimore und anderswo ist eine überwiegend friedliche politische Bewegung entstanden. Die Betroffenen melden sich zu Wort. Mehr und mehr Menschen wird klar, dass es hier um Bürgerrechte und um Rassismus geht. Das ist neu. Wir stehen an einem historischen Scheidepunkt. Die Frage ist, wie weit wir jetzt kommen.

Alice Goffman:
On the Run
Die Kriminalisierung der Armen in Amerika.
Kunstmann Verlag;
320 Seiten; 22,95 Euro.
