Rechtschreibreform Der Countdown läuft
Frankfurt/Main - Eigentlich sollte der Streit über die Rechtschreibreform am 1. August zumindest vorläufig beendet sein: An diesem Tag, so war mehrfach entschieden worden, sollten die 1996 beschlossenen Änderungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz verbindlich in Kraft treten. Nun sind Bayern und Nordrhein-Westfalen ausgeschert - sie wollen abwarten, bis noch strittige Punkte geklärt sind. Gegner der Rechtschreibreform frohlockten; Politiker zeigten sich schockiert, weil sich Edmund Stoiber und Jürgen Rüttgers über einen Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz hinwegsetzten.
Was muss, das muss
Für die Schulen, in denen zum Teil schon seit sieben Jahren die neue Rechtschreibung unterrichtet wird, bedeutet die Entscheidung der zwei Regierungschefs konkret: Schüler in Bayern und Nordrhein-Westfalen dürfen das Wort "muss" weiterhin als "muß" schreiben - es wird rot angestrichen, aber nicht als Fehler gewertet. Anders in den übrigen Bundesländern - hier wird ein Großteil der neuen Regeln von Montag an für alle Schüler konsequent umgesetzt, Verstöße werden geahndet.
Auch die Verwaltungen sind ab dem 1. August verpflichtet, die Rechtschreibreform zu beachten. Davon ausgenommen sind die Bereiche, in denen der Rat für deutsche Rechtschreibung Neuerungsvorschläge angekündigt hat, nämlich die Getrennt- und Zusammenschreibung, die Worttrennung am Zeilenende und die Zeichensetzung.
Auf eben diese Vorschläge wollen Bayern und Nordrhein-Westfalen warten, bevor sie die neuen Rechtschreibregeln verpflichtend einführen. Für die Schüler sei es verlässlicher, die bisherige "Phase des Übens" andauern zu lassen, sagte die nordrhein-westfälische Schulministerin Barbara Sommer.
Möglicherweise komme ja nach der Ratsentscheidung in ein oder zwei Jahren wieder eine Änderung, man wolle kein Hin und Her. Der von der Kultusministerkonferenz (KMK) eingesetzte Rat für deutsche Rechtschreibung hat auf seiner letzten Sitzung Anfang Juli empfohlen, wieder mehr Wörter zusammenzuschreiben. Das Thema Worttrennung soll bei der nächsten Sitzung Ende Oktober auf der Tagesordnung stehen. Auch in anderen Punkten sind die neuen Regeln bereits revidiert worden.
Gerangel ohne Punkt und Komma
Die extrem wechselhafte Geschichte der Rechtschreibreform reicht inzwischen 13 Jahre zurück. Erstmals 1992 von Sprachwissenschaftlern vorgelegt, unterzeichneten 1996 Vertreter der deutschsprachigen Staaten in Wien eine gemeinsame Absichtserklärung. Danach sollten die neuen Regeln ab 1. August 1998 in Schulen und Behörden gelten. Bis August 2005 wollte man die alten Schreibweisen dulden.
Die Gegner der Reform bemühten daraufhin die Gerichte bis in die obersten Instanzen von Bundesverfassungs- und Bundesverwaltungsgericht. In Schleswig-Holstein wehrten sich die Bürger sogar per Volksentscheid gegen die neuen Regeln, bevor eine neue Landesregierung sie dann doch an den Schulen einführte. Schon ein Jahr nach der Umstellung der Rechtschreibung bei den deutschen Nachrichtenagenturen und damit auch im deutschen Zeitungswesen im August 1999 kehrte die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" Mitte 2000 zu den alten Regeln zurück.
Ebenfalls 2004 beschlossen KMK und Ministerpräsidentenkonferenz endgültig die verbindliche Einführung zum 1. August 2005. Zugleich wurde der Rat für deutsche Rechtschreibung eingesetzt. Als diesem Gremium in der ersten Jahreshälfte 2005 mit der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung einer der prominentesten Gegner der Reform beigetreten war, freute sich der Ratsvorsitzende Hans Zehetmair: "Damit ist der von den Kultusministern zur Wiederherstellung des Rechtschreibfriedens eingesetzte Rat endgültig komplett."
Aber allen Beschlüssen und Vereinbarungen zum Trotz: Der Streit über die neuen Regeln ist noch lange nicht beigelegt, wie die Positionen Bayerns und Nordrhein-Westfalens zeigen. Auch zahlreiche Schriftsteller halten, ebenso wie mehrere Verlage, an der alten Orthografie fest.
Wie unbeschwert ging dagegen vor mehr als 200 Jahren ihr berühmter Kollege Johann Wolfgang von Goethe das Problem der korrekten Schreibweise an: "Mir war die konsequente Rechtschreibung immer ziemlich gleichgültig", erklärte er. "Wie dieses oder jenes Wort geschrieben wird, darauf kommt es doch eigentlich nicht an, sondern darauf, dass die Leser verstehen, was man damit sagen wollte."
Susanne Gabriel, AP