Retro-Manie Endlich Gegenwart!

Unser Jahrzehnt ist außer sich: Der Stil der Jetztzeit sucht Halt in der Vergangenheit, fast alles ist Retro, viele haben ihre Zeit aufgegeben. Dabei gäbe es so viel Spannendes zu entdecken, schreibt Niklas Maak von der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagzeitung".

Es gibt Menschen, die sich komplett aus ihrer eigenen Zeit verabschiedet haben. Sie fahren einen New Mini, gehen in Bars, die aussehen wie die Kantine eines Filmraumschiffes der späten sechziger Jahre, haben eine mit orangefarbenen Leuchten vollgestopfte Wohnung, hören Bossa Nova und sehen insgesamt aus, als hätte man einen Pariser Geschäftsmann der sechziger (Hedi-Slimane-Krawatte, Dior-Anzug) auf einen drogensüchtigen Cowboy der siebziger Jahre (Acne-Jeans) geschraubt.

Selten gab es eine Zeit, die so wenig mit sich selbst zu tun haben wollte: Erfolg haben vor allem Produkte, die sichtbar untergegangene Formen wiederbeleben, ob das Autos wie der New Mini und der neue Fiat 500 sind oder Alltagsgegenstände wie das Arsenal der handgezimmerten, faustgeschmiedeten Gerätschaften von Manufactum. Genau genommen gibt es zwei Retrobewegungen: eine, die sich in den Weltraummodernismus der sechziger Jahre flüchtet, und eine, die sich eine nicht politisch, sondern rein ästhetisch verstandene "neue Bürgerlichkeit" wilhelminischer Art mit Klavierabend, Krawattenpflicht und Sandsteinfassaden zurückwünscht. Andererseits gibt es zurzeit viel mehr interessante Dinge, Haltungen und Formen, als man denkt. Man sieht sie nur schlecht, was am vielen Retro liegt, das den Blick so ermüdet, das man am Ende gar nicht mehr genau hinschauen mag.

Die Retrokultur ist erstmal ein Generationenproblem. Wer 2001 dreißig war, erkennt in seinem Geburtsjahr 1971 eine heile Welt ohne Arbeitslosigkeit, Aids und Al Qaida, in die er gern zurückkehrte; wer 1971 dreißig war, ist 1941 geboren und hat wenig Grund, sich in die Zustände des Jahres seiner Geburt zurückzuwünschen. Bei Retro handelt es sich dabei nicht bloß um ästhetische, sondern auch um ideologische Rückwärtsrollen; mit der Retroküche schleichen auch alte Rollenbilder ins Haus. Hans-Georg Häusel, Vorstand der Gruppe Nymphenburg, die Erkenntnisse aus der Gehirnforschung auf das Marketing überträgt, erklärt soeben allen Ernstes, "das Hormon Östrogen bewirkt, dass Frauen eher auf Ästhetik ansprechen, während das Testosteron bei Männern dazu führt, dass sie sich eher funktional denken". Im Kokon aufgewärmter Kindheitsformen, berieselt von öden Liedern über das Jahr 1973 und dubiosen Biologismen, verabschiedet sich der Mensch der Nullerjahre aus dem Jetzt und seinen Chancen, verpasst sein Leben hier, aber das macht ihm nichts; das seiner Vorfahren gefällt ihm deutlich besser. Sowas hat auch Folgen für die sogenannte politische Landschaft: Kein deutscher Barack Obama in Sicht und keiner, der erklärt, wie es kommt, dass zum Beispiel die türkisch-deutschen Obamas, die es sicher auch gibt, hierzulande im Sumpf der Politbürokratie verschwinden.

Natürlich war Retrokultur wichtig - als Wiedervorlage von Ideen, die es lohnte, weiterzudenken. Was man heute Barock nennt, hatte ein knappes Jahrhundert Zeit, sich weiterzuentwickeln und auszudifferenzieren; die Moderne von Buckminster Fuller oder Verner Panton hatte nur wenige Jahre. Retro war auch ein Versuch, die Opfer immer kürzerer Epochenzyklen zu bergen - aber mittlerweile wurden die alten Teebeutelchen ein bisschen zu oft aufgegossen.

Wer auf aktuelle Möbelmessen geht, tritt in eine Welt, die aussieht wie die des Jahres 2001, das schon wie der Film "2001 - Odyssee im Weltraum" von 1967 aussehen wollte. Leider sehen all diese Dinge aus wie zu oft aufgewärmtes Essen: aufgedunsen, trocken, zusammengesackt. Gibt es überhaupt noch Dinge, die nicht retro sind? Und was wären Formen, die spürbar aus der Gegenwart stammen?

Wo findet man das Gefühl von Gegenwärtigkeit heute?

Wenn es Filme gab, in die man einziehen mochte und die das Fühlen einer Generation prägten, lag das vor allem an der aus Musik, Blicken, Bauten und Dingen zusammengesetzten Stimmung, die in ihnen kristallisierte: das Paris von 1959 war nicht mehr dasselbe nach den Jeans, der Sonnenbrille, den Zigaretten und der Kurzhaarfrisur, die Jean Seberg in "Außer Atem" trägt. Aber: Wo findet man, wenn man es denn vermisst, das Gefühl von Gegenwärtigkeit heute?

Vielleicht im Moment mehr in der Architektur. Vor allem hier wird grundlegend neu sortiert, was öffentlich und was privat ist, und das ästhetische Experiment ist auch ein politischer Akt: Außen und innen, Wohnen und Draußen-Sein verhalten sich in diesen Experimentalwelten ganz anders als noch vor kurzem - und fühlen sich dank neuer Materialien auch anders an.

Rem Koolhaas' Bibliothek von Seattle zum Beispiel ist eigentlich ein in die Vertikale gefalteter, mit einem Stahlnetz ummantelter öffentlicher Platz, wie es ihn so noch nicht gab; eine Mischung aus riesigem Wohnzimmer und Piazza, mit Sofas und Coffeeshop; über einen Spiralweg, der sich wie ein Wurm durch die Bücher der Bibliothek nach oben frisst, wird die Öffentlichkeit in Höhen gebracht, in der bisher nur privater Büroraum zu finden war.

Oder Ryue Nishizawas Moriyama-Haus in Tokio: Genau genommen ist es eine Stadt aus vielen Mini-Häusern. Auf dem Grundstück, auf dem normalerweise ein einziges Haus entstehen würde, zerlegt Nishizawa einen Bau in zehn Kuben, jeder beherbergt einen Raum, die Flure dazwischen sind öffentliche Wege. Die Mitglieder der hier lebenden kleinen Gemeinschaft benutzen die öffentlicheren Räume gemeinsam und haben gleichzeitig Rückzugskuben, die Privatsphäre garantieren. Das Haus ist nicht nur ein mikrosoziales Experiment, sondern auch die Entsprechung des iPods in der Architektur: die klaren weißen Kuben zeigen, wie auf engstem Raum alles Nötige untergebracht werden kann.

Und dann das "Theatre of Immanence" der Architekten Ben van Berkel, Johan Bettum und Luis Etchegorry, das noch bis zum 13. Januar im Frankfurter Portikus zu sehen ist: Diese Raumskulptur ist die Kernzelle einer möglichen neuen Universitätsarchitektur: Den immer gleichen, frontal organisierten Hörsälen und Klassenräumen des 19.Jahrhunderts setzen sie eine Denklandschaft mit aufsteigenden, sich verengenden Treppen und Nischen entgegen, in denen man in kleineren Gruppen zusammenhockt; ein modernes Amphitheater, ein Lehrfelsen und eine neuartige Kommunikationsskulptur. Auf das weich fließende Gitter werden Muster und Bilder projiziert, so dass sich die Form jede Sekunde zu ändern scheint - was aussieht wie ein ironischer Gruß an die Bilder der Hirnforschung.

Neben solchen Hightech-Produkten gibt es die Objekte einer neuen Guerrilla-Architektur, die mit beschränkten Mitteln die Städte verändern will. Die Architekten von "Raumlabor" stellten mit ihrem temporären "Hotel Bergkristall" mitten in Berlin eine günstige Übernachtungsgelegenheit auf, die sozial wie ästhetisch ein Experiment war: In den Zimmern schlief man wie im Inneren eines Kristalls, und der große Preis für unsentimentale Gemütlichkeit wäre ihren verwinkelten Zimmern auf jeden Fall sicher.

Wenn es darum geht, welche Materialien die Gegenwart beschäftigen, dann ist es interessant, dass Philosophen und Ingenieure in den letzten Jahren unabhängig voneinander am gleichen Material arbeiteten, nämlich an Schaum. Zum Beispiel Sloterdijks "Schäume" - so der Untertitel des letzten Bandes seiner Sphärentrilogie: Die Gesellschaft sei wie Schaum organisiert, die Menschen "ko-isolierte Existenzen", einzelne zelluläre, fragile Weltblasen, die sich über unterschiedliche Medien - Architektur, Fernsehen, Internet, Konsum - berühren, manchmal auch platzen und strukturell zu Schaum verdichten. Konkretere Schaumdeutung betreibt der Ingenieur Werner Sobek: "Könnte es sein", fragt er, "dass man in großporigen Schäumen wohnen kann? Man muss den Schaum nur verfestigen, dann hätte man eine Behausung, ein Habitat aus der Dose." Solche schnell in die Gegend schäumbaren Bauten wären etwa als Notunterkünfte einsetzbar. Ein spielerisches Pendant dazu ist die Instantkleidung von Manel Torres. Er erfand "Fabrican", eine Aerosollösung, die direkt auf die Haut gesprüht wird, wo sich winzige Fasern sofort zu einem filzähnlichen Stoff verbinden. Ein ähnliches Material wurde ursprünglich als pharmazeutischer Verbandsstoff entwickelt; Torres entwickelte es weiter zum T-Shirt aus der Dose.

Material- und Ingenieurwissenschaftler haben bei der Berechnung von kristallinen Formen und Gitterstrukturen große Fortschritte gemacht, wie Koolhaas' Bibliothek zeigt. Wie sehr komplexe Gitter die aktuelle Ästhetik prägen, sieht man auch an Konstantin Grcic' "Chair One", dem emblematischen Stuhl dieses Jahrzehnts. Ebenfalls an der Geometrie des Kristalls arbeitet Daniel Libeskind mit seinem Spirit-House-Stuhl, in dem Kunsthistoriker wahlweise einen Gruß an den berühmten Polyeder aus Dürers "Melencolia I" oder eine Hommage an die Oberflächengestaltung heutiger Stealth Bomber erkennen.

Überhaupt, der Stealth Bomber: für Formschöpfer ist er eine Herausforderung, denn seine komplex gefaltete Form, die dazu dient, Radarortung unwirksam zu machen, hat nur ein Ziel - formlos zu erscheinen. Auf dem Weg vom militärischen Gerät zum symbolischen Konsumobjekt verkehrt sich diese Ästhetik des Unsichtbaren allerdings oft in ihr Gegenteil: Die Oberflächengestaltung des Bombers, die den Zweck hat, nicht gesehen zu werden, soll etwa beim Lamborghini Gallardo, dem stealthhaftesten Auto der Gegenwart, gerade für Aufsehen sorgen.

Ganz anders sieht der erste ökofuturistische Traumwagen des postfossilen Zeitalters aus: Der amerikanische Tesla Roadster, so benannt nach dem legendären Erfinder und Elektroingenieur Nicola Tesla, wird von einem 252 PS starken Elektromotor angetrieben, der den Wagen in nur vier Sekunden vollkommen lautlos auf 100 Kilometer pro Stunde katapultiert. Der Stromverbrauch des Autos entspricht laut Hersteller einem Benzinverbrauch von 1,74 Litern auf 100 Kilometer; 25 Quadratmeter Solarzellen genügen, um den Energiebedarf für 20000 Fahrkilometer bereitzustellen. Mag sein, dass nur wenige diesen Wagen tatsächlich fahren werden - aber die Haltung, für die die neuen Elektro- und Hybridfahrzeuge stehen, ist bewusstseinsbildend und sackt schnell in die breite Masse durch, wie der Breitenerfolg des Toyota Prius zeigt.

Revolutionär ist der Tesla vor allem, weil er Ökologie und Verzicht entkoppelt und der Entsagungsästhetik, die bisher alle ökologischen Objekte so trostlos aussehen ließ, ein Ende macht. Wie die dazu passende architektonische Solarmoderne aussehen könnte, zeigt ebenfalls Werner Sobek. Er entwickelt zurzeit ein linsenförmiges Wohnhaus, in dessen Glas-Kunststoff-Fassade Solarzellen integriert sind, die den Bau mit Energie versorgen. Die Fassade lässt sich von durchsichtig auf milchig schalten: Gardinen, Fenster, klassische Steinwände - ersetzt durch ein neues Material.

In Sobeks futuristischen Schneckenhaussitzen in Seattle gleichzeitig drinnen und draußen sein, in einem Bergkristall schlafen - all das sind Erfahrungen, die man vor zehn Jahren nicht hätte machen können. Diese Dinge verändern das Bewusstsein: Sie zeigen, was, statt der Einigelung in tröstliche, weinerlich stimmende Nostalgismen, noch möglich wäre, und das ist, allen gefilmten und gemalten Jammerfiguren der Nullerjahre zum Trotz, schon mal ein Grund, den Kopf nicht hängen zu lassen.

Dieser Beitrag wurde mit freundlicher Genehmigung aus der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" übernommen.

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