Theaterpremiere Land unter nach heftigem Storm

Die Schauspieler Jens Harzer als Hauke Haien und Barbara Nüsse als Trin Jans im "Schimmelreiter" am Thalia Theater
Foto: Christian Charisius/ dpaDer Sturm nach der Stille: Wenn Jens Harzer als Deichgraf Hauke Haien schließlich ruhelos, nackt und verzweifelt vor seinem Grab steht, bläst ihm noch kräftig "Voodoo Chile" von Jimi Hendrix ins Gesicht - der Zauber ist gestorben.
Am Ende dieser brachial textlastigen Theaterversion der bekanntesten Novelle Theodor Storms hat ihn die Bühnenkonstruktion förmlich ausgespien, durch eine Drehung brutal an die Rampe geschoben, wie ihn die Gesellschaft zuvor schon ausgegrenzt hatte. Er will nicht sterben, wird zur Spukgestalt, irrt weiter durch die stürmische Küstennacht.
Aber es war ein langer Weg, den der Besessene in dieser Inszenierung des Prosatextes von Johan Simons gehen musste. Und das Publikum benötigte ebenfalls gute Kondition, denn der neu erstellte Text erschien zum Teil unendlich wie das Meeresrauschen und die Gezeiten.
Bilderbuch der Antike
Eine griechische Tragödie! Plakativer kann man eine Bühne (effizient, karg, bedrohlich von Bettina Pommer erdacht) kaum bauen. Mit zwei schlichten Treppen, einem riesigen Wall - ein Deich wie ein Monument aus dem Bilderbuch der Antike. Gestört nur durch den Plüschkadaver eines Schimmels, der über diesen Quasi-Deich hängt.
Darauf die Menschen, die mal herunterkullern, mal stolz schreiten, ihn aber nie beherrschen, diesen Bau, der stattdessen sie beherrscht. Weite Sicht aufs imaginäre Meer.
Inmitten des meist monochrom schwarz-weiß ausgeleuchteten Bildes (differenziertes Licht: Paulus Vogt) ragt oft nur einer als Fels in der Brandung heraus: Jens Harzer spielt diesen Hauke Haien, der mit der Zeit immer furchterregender und intensiver in seiner Entschlossenheit wirkt, den besten aller Deiche für die Ewigkeit zu bauen, praktisch die Zukunft seines friesischen Küstenortes.
Nur durch das Geld seiner Frau Elke (berührend schlicht und intensiv: Birte Schnöink) zum Herrscher über Deich und Gemeinde katapultiert, wird Hauke Haiens von Wissenschaft und Fortschrittsglaube getriebener Ehrgeiz der zerstörerische Sprengsatz für alle. Die Kraft, die in diesem Falle das Gute will und das Böse schafft: ein tragischer Faust ohne seinen Mephisto-Korrektiv.
Aus dem Museum des Regietheaters
Wer Jens Harzer im Tatort-Krimi "Es lebe der Tod" sah, hat eine Vorstellung von der Intensität, mit welcher er Extremisten mit vielen Facetten darstellen kann. Vom Flüstern zum Schrei, von der kühlen Überlegung zum hysterischen Übergeigen, dieser Harzer kann mit seiner berserkernden Intensität die Bühne allein füllen, wie er es am Thalia in den vergangenen Jahren schon oft bewiesen hat.
Nun schrieb die Dramaturgin Susanne Meister eine neue Textfassung für den "Schimmelreiter", die die komplexe dreistufige Erzählstruktur der Novelle zwar klug eindampft, den niederländischen Regisseur Johann Simons allerdings zu ein paar Spielleiter-Schlenkereien verleitete, die man eigentlich schon im Requisitenmuseum des Regietheaters vermutete.
So setzte das Ensemble sechs (oder sieben?) Male mit der Erzählung "Es war das Jahr 1756" an, um die gleiche Szene nahezu identisch zu wiederholen. Einmal wechselte Jens Harzer die Jahreszahl, aus Versehen oder mit Absicht, aber das war dann auch schon egal: Der ewig gleiche Rhythmus von Wind, Wellen, Ebbe und Flut prägte Simons' Sicht auf Storm, der so viel Wiederholung eigentlich nicht benötigte. Willkommen im Redundanztheater!
Da wackelt die Treppe!
Natürlich passierte eine Menge mehr, aber dieser "Running Non-Gag" bremste stets dann, wenn die Deich-Sache Fahrt gewann. Als zum Beispiel der verprellte Deichgraf-Anwärter Ole Peters in Gestalt von Sebastian Rudolph dem Harzer-Haien eine Standpauke bezüglich seiner Eitelkeit und Bigotterie hält, da wackelt die Treppe.
Und Rudolphs Furor kann Harzers mildem Wahn durchaus Paroli bieten. Oder der wie immer höchst individuelle Kristof Van Boven, der als Kind von Hauke und Elke ein Wesen spielt, das aufgrund einer kognitiven Behinderung nur unvollkommen mit seiner Umwelt kommunizieren kann, sie aber intensiv erlebt - ein zwar simpler Spiegel des Elterpaares, aber subtil dargestellt.
Perfekt agierende Darsteller
Und dass Barbara Nüsse, die Grande Dame des Thalia, die Trien Jans mit geisterhafter Noblesse und abgründiger Waghalsigkeit zeichnet, überrascht kaum, wie auch Rafael Stachowiaks manisch-furchtsamer Carsten markante Momente serviert.
Dennoch bekommt der Abend bei allem Stilwillen keine überzeugende Linie und verhindert durch die allzu statische Personenregie, die sich anscheinend bewusst der Dramatik verweigert, den herbeigesehnten Wumm. Wenn der dann durch die sparsam eingesetzte Musik addiert werden muss, wurde schauspielerisches Potenzial falsch portioniert.
Die Reaktion des Premierenpublikums fiel dann entsprechend distanziert und leicht irritiert aus. Nach einigen Erfolgen mal wieder Land unter im Thalia. Natürlich erhielten die perfekt agierenden Darsteller lautstarken Applaus, das Regieteam weit weniger, aber wenn Schulterzucken Lärm machen könnte, hätten die Thalia-Mauern gebebt.