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Krieg im Theater: Tatort Toskana

Foto: Kerstin Schomburg

Deutsch-italienisches Theaterprojekt Feige Morde unter Freunden

Politisches Volkstheater in einem italienischen Dorf, in dem vor 70 Jahren deutsche Soldaten Kinder und Frauen massakriert haben: Das Lehrstück "Rote Aprikosen" ist ein finsteres, ergreifendes, aber auch komisches Spektakel.

Er träume oft vom Krieg, sagt ein gebeugter Greisendarsteller namens Osvaldino zu Beginn, "niemand kann so etwas vergessen". Bald darauf sieht man ein echtes Feuerwerk über den Dächern des Dorfes San Gusmè mitten in dieser Sommernacht des Jahres 2014. Weiße Leuchtspurböller steigen in den Himmel, der Lärm von Granaten und Gewehren dröhnt aus Lautsprecherboxen. Auf dem Hauptplatz des Dorfes, das auf einem Hügel der Toskana thront, versammeln sich junge Frauen und Männer, die sich verängstigt aneinanderdrängen. Sie sprechen darüber, dass die Menschen sich im Krieg manchmal "come le bestie" benähmen, "wie die wilden Tiere".

Am Ende steigt der Mann, den Osvaldino verkörpert, leibhaftig auf die Bühne. Der Mann hat den Horror wirklich erlebt, er ist einer der letzten überlebenden Zeitzeugen aus San Gusmè. Alle anderen spielen an diesem Freitagabend Theater. Das ist der Clou des Spektakels "Rote Aprikosen", das scheinbar sehr weit weg vom gewöhnlichen, professionellen Bühnenbetrieb unter dem Sternenhimmel mitten in diesem toskanischen Dorf uraufgeführt wird.

Tatsächlich beweist die Inszenierung, die der italienische Regisseur Matteo Marsan und die Deutschen Dania Hohmann und Ulrich Waller da vor einer Holztribüne auf dem Dorfplatz angerichtet haben, auf umwerfende Weise die manchmal einzigartige Kraft des Theaters, jenen Irrsinn lebendig zu machen, der in Geschichtsbüchern, Kinofilmen und TV-Dokumentationen meist ferner, abstrakter Schrecken bleibt.

In San Gusmè spielen an diesem Abend die nachgeborenen Bewohner eines italienischen Dorfes zusammen mit dem Zeitzeugen-Stellvertreter Osvaldino die Vorgeschichte eines Massakers nach, das im Sommer 1944 geschah. Profischauspieler aus Deutschland und Italien helfen ihnen dabei, aus Deutschland unter anderem Adriana Altaras und Peter Jordan. Zu den Sponsoren der Aufführung gehören das italienische und das deutsche Außenministerium. Der Mitregisseur Ulrich Waller sagt: "Als ich herausgekriegt habe, was an diesem Ort passiert ist, wusste ich, dass man davon auf einer Bühne erzählen muss."

Die blutigen Schlachten im Sommer vor 70 Jahren

Waller hat als Regisseur des Udo-Lindenberg-Musicals "Hinterm Horizont" in Berlin ein Millionenpublikum unterhalten, er regiert in Hamburg seit vielen Jahren als Co-Chef das St. Pauli Theater und hat sich mit großer Leidenschaft den Launen des Meisterregisseurs Peter Zadek gebeugt, der seine letzten Arbeiten an seinem Haus zeigte. Waller ist ein anerkannter Künstler - und ein Mann der Toskana-Fraktion.

Er ist 1954 geboren, und wie viele erfolgreiche Deutsche seines Alters hat er sich in den Achtzigern ein Haus in Italien gekauft, eben in San Gusmè; er hat seine erste Ehefrau, die Regisseurin Elke Lang, nach ihrem Krebstod im Jahr 1998 hier begraben; und er hat eines Tages einen seltsamen Gedenkstein auf dem Friedhof entdeckt, der für die Opfer eines Massakers errichtet wurde. Der Stein erinnert daran, dass Soldaten der Division "Hermann Göring" am 4. Juli 1944 als "Sühnemaßnahme", angeblich auf höheren Befehl, acht Kinder und Frauen sowie einen Mann umbrachten.

Waller beschloss, zusammen mit Dania Hohmann und dem italienischen Regisseur Matteo Marsan, ein Theaterprojekt zur Erinnerung an den historischen Mord in Angriff zu nehmen. Bald staunte er darüber, wie gründlich auf allen Seiten die Vergangenheit verdrängt worden war. "Ich erzähle von der Schuld der Deutschen", sagt Waller, "aber ich will den Italienern ihre faschistische Vergangenheit nicht ganz ersparen."

"Albicocche rosse" heißt das Stück, das Hohmann, Marsan und Waller zusammen geschrieben haben. Es schildert in Szenen aus dem dörflichen Alltag die Vorgeschichte des Massakers von San Gusmè. Es beginnt im Sommer 1940, als Deutsche und Italiener Kriegsverbündete waren, und es endet mit den blutigen Schlachten des Sommers 1944, als die amerikanischen Truppen Rom erobert hatten und die zurückweichenden deutschen Soldaten von italienischen Partisanen gejagt wurden.

Linksalternatives Volkstheater im Guerilla-Stil

"Albicocche rosse" ist linksalternatives Volkstheater im Guerilla-Stil des italienischen Theaterclowns Dario Fo, der 1997 den Literaturnobelpreis bekam. Beim Fo-Verehrer Waller und seinen Konsorten sieht man die Schulkinder des heutigen Dorfes San Gusmè in den schwarzen Klamotten der Faschistenkinder von damals herumtollen, während sie den Schulunterricht der frühen 1940er Jahre nachspielen und Mussolini-Reden anhören.

Man sieht den Schauspieler Jordan als deutschen Offizier, der mit einer italienischen Dorfschönheit eine Liebesaffäre beginnt und mit ihr im Kino die Wochenschau-Berichte von der näherrückenden Front anglotzt. Man merkt: Hier wird ein Lehrstück erzählt. Zum Beispiel darüber, dass in der toskanischen Provinz viele stramme italienische Faschisten auch dann noch von Mussolini schwärmten, als der sogenannte Duce schon abgesetzt war.

Trotzdem sind die Theaterzuschauer hier nicht bloß Zeugen eines Passionsspiels, in dem Geschichte verwurstet oder brav durchgenommen wird. In der "Albicocche rosse"-Aufführung wird im toskanischen Publikum gelacht, mitgelitten und mitgesungen, als sei die Story, die hier unter dem Nachthimmel verhandelt wird, eine von heute. Das Massaker an den Frauen und Kindern von San Gusmè selbst wird am Ende streng dokumentarisch geschildert: Die Darsteller verlesen die Zeugenaussagen jener Dorfbewohner, die damals mit ihrem Leben davonkamen.

Der lange Applaus nach zwei Theaterstunden auf der Piazza Castelli von San Gusmè lässt einen zumindest für eine Weile tatsächlich glauben: Die Erinnerung an den Tatort Toskana wird so schnell nicht mal jene Deutschen loslassen, die die Region heute so inbrünstig als Paradies verklären. Denn manche ihrer Großväter haben sich vor 70 Jahren in diesem Land wie Bestien benommen.


www.albicocche-rosse.de , vorerst keine weiteren Vorstellungen geplant

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