Roy Lichtenstein-Ausstellung Mehr als blonde Banalitäten
"Was macht die Kunst zur "Kunst"?", war die Frage, die den ehemaligen Zeichenlehrer Lichtenstein Zeitlebens beschäftigte. Marcel Duchamp hatte sie Jahrzehnte zuvor beantwortet, indem er ein Pissoir auf einen Museumssockel hievte und zur Kunst erklärte. Doch damit wollte Lichtenstein sich nicht zufrieden geben. Er spürte in seinen Arbeiten unbeirrbar dem Wesen der Kunst - und der Malerei - nach. Was ist ein Bild? Und warum glauben wir an räumliche Tiefe, obwohl wir eine plane Leinwand vor uns haben?
Um diese Fragen zu klären, waren Lichtenstein die scheinbar banalsten Motive gerade recht. Wer kennt sie nicht, seine melancholischen Schönheiten, die, von riesigen Sprechblasen umrahmt, ihrem Liebsten nachtrauern, die Bomberpiloten, die flankiert von Whamm!!- Und Bratatata!!-Schriftzügen durch die Lüfte jagen, seine plakativen Sonnenuntergänge und Mickey-Mouse-Gemälde.
Mit Weggefährten wie Andy Warhol, Robert Rauschenberg und Tom Wesselman ebnete Lichtenstein dem kulturellen Fastfood den Weg in die Museen. Dieser Aspekt seiner Arbeiten ist hinreichend bekannt. Umso interessanter ist es, sie aus der Perspektive der "Spiegelungen" zu betrachten, einem Motiv, das Lichtensteins gesamtes Werk durchzieht. Malerisch ist der Bogen dabei weit gespannt. Gemälde von funkelnden Diamanten und glitzernden Tränen sind zu sehen, metallene Skulpturen, Arbeiten, die von gemalten Spiegelstreifen überdeckt werden, Landschaften, die aus einer reflektierenden Folie bestehen.
Und immer wieder die berühmten Comic-Schönheiten, die sich im Spiegel betrachten oder durch ein Fenster, dem scheinbaren Tor zur Seele, blicken. Der Begriff der Spiegelung ist dabei so tückisch wie doppelbödig. Schon Narziss ist auf den schönen Schein hereingefallen - warum sollten wir der perfekten Oberfläche vertrauen? Lichtenstein spielt mit ihr, mit den maschinellen Rastern, die er so mühsam per Hand zeichnete, mit den Abbildungen von Lebensidyllen und lauschigen Heimen, dessen Motive er in den Gelben Seiten und in Prospekten fand. Trau, schau, wem heißt die Devise. Und das ist auch der Grund, warum die Spiegel in seiner wohl radikalsten Annäherung an das Thema, in einer Serie aus den siebziger Jahren, blind bleiben.
Im Englischen beinhaltet "Reflection" das Nachdenken über etwas. "You Are My Mirror", sang Nico von Velvet Underground seinerzeit. Aber Lichtenstein sah das nicht so verklärt. Mal werden seine Motive abstrakter und wenn er eine nackte Frau mit Anspielung an die amerikanische Prüderie an den prekären Stellen mit Spiegelstreifen übermalt, werden sie gewagter. Doch ob der Spiegel blind bleibt, die Reflexion verschwimmen lässt oder einzig blonde Banalitäten zeigt, die Auseinandersetzung mit dem Gesehenen fällt immer auf den Betrachter zurück. So weit wie Velazquez, der in seinem berühmten "Las Meninas"-Gemälde den Bildraum durch das Königspaar im Spiegel erweiterte, muss Lichtenstein nicht gehen. Er will nicht hinausführen aus dem Bild, sondern direkt an dessen Kern zurück.
Daran arbeitete er pedantisch wie ein Beamter tagtäglich von 10 bis 18 Uhr - und variierte das Thema in immer größerer Konsequenz. Auch deshalb konnte er einem Journalisten, der ihn kurz vor seinem plötzlichen Tod 1997 fragte, ob die Pop-Art nach 30 Jahren nicht längst ihre Durchschlagskraft verloren habe, kokett antworten: "Auf alle anderen Maler trifft das zu, aber nicht auf mich".
Roy Lichtenstein: "Spiegelbilder 1963-1997". Kunstmuseum Wolfburg; 16.09.2000 bis 21.01.2001