RTL-Rückblick 2007 Quatsch mit Schicksalssoße

Ein Weltmeister, eine Muttertier-Blondine: In diesem Jahr kommt kein Rückblick ohne sie aus - nicht mal Günther Jauch. Geschlagene dreieinhalb Stunden rührte der RTL-Star in der Schicksalssoße - doch so viel menschliche Dramen sind für den Zuschauer unverdaulich.

So wie Weihnachten jedes Jahr früher losgeht, beginnt auch die Jahresrückblickssaison immer ein bisschen eher. Wenn im Spätsommer die Supermärkte die ersten abgepackten Christstollen in die Regale stellen, machen sich die Saisonarbeiter des Fernsehens bereits auf die Suche nach den Menschen des Jahres. Die Konkurrenz schläft nicht, und so werden schon im August die ersten Verträge mit den zukünftigen Studiogästen unterschrieben.

Das hat zur Folge, dass jeder Sender nur jene Teilwirklichkeit abzubilden im Stande ist, die er sich rechtzeitig rechtlich gesichert hat. Es kann passieren, dass man im Fernsehen innerhalb weniger Tage zwei gänzlich unterschiedliche Zusammenfassungen des Jahres sehen kann. Wichtig ist für den jeweiligen bilanzierenden Sender vor allem eins: was der andere Sender nicht hat. Zwischen dem ZDF und RTL sowie ihren Allzweckwaffen Johannes B. Kerner und Günther Jauch kommt es auf diese Weise, immer wieder Anfang Dezember zum aberwitzigen Showdown - das hat schon Tradition. So fühlt er sich an, der Verdrängungswettbewerb in der Besinnlichkeitsindustrie.

Hatte Kerner schon am Sonntag vor einer Woche die Fußballweltmeisterinnen und die stahlblonde Muttertierdarstellerin Veronica Ferres ("Frau vom Checkpoint Charlie") präsentiert, so begrüßte Jauch jetzt die Handballweltmeister und die stahlblonde Muttertierdarstellerin Maria Furtwängler ("Die Flucht"). Dabei machte Jauch - und das bringt eine neue Qualität in den Kampf um den glamouröseren Jahresrückblick - einige höchst süffisante Bemerkungen über die Blondine der Konkurrenz. Die Furtwängler, so zitierte der Moderator aus einem Artikel des "Stern", besitze alles, was die Ferres gerne hätte.

Nein, mit Bescheidenheit kommt man im Rückblicksgewerbe nicht weit. Und mit Pietät schon gar nicht. Bereits kurz nach dem Oscar-Erfolg von "Das Leben der Anderen" hatte man Regisseur Florian Henckel von Donnersmarck und Schauspieler Ulrich Mühe vertraglich an die RTL-Jahresbilanz gebunden. Mühe verstarb im Juli, der Filmemacher sprach nun alleine über den Oscar-Erfolg – und wie er dem dahinsiechenden Freund für einige Zeit selbstlos seine Trophäe übereignen wollte, um ihm eine letzte Freude zu machen. Doch dann war der Tod schneller als des Regisseurs Großzügigkeit.

Schicksalsindustrie in Molltönen

Erstaunlich, wie schwer sich Medienprofis hierzulande tun, die eigene Geltungssucht hinter einem würdevollen Auftritt zum Verschwinden zu bringen. Am Ende verbeugte sich Henckel von Donnersmarck vor dem Publikum mit den traurigen Worten, dies sei wohl vorläufig der letzte Applaus, den er für "Das Leben der Anderen" bekommen werde.

Applaudiert wurde in dieser Nacht so reichlich, dass dem Klatschvolk im Studio am Ende die Arme ganz schwer geworden sein müssen. Gelegentlich sah man deshalb einen Animateur vor dem Publikum herum rennen, der die Leute von ihrer Müdigkeit ablenken oder zu Sprechchören anheizen sollte. Denn in der gleichen Zeit, in der Günther Jauch sonst bei "Stern-TV" fünf menschliche Schicksale abzuhandeln pflegt, präsentierte er hier an die 50. Auch in diesem Punkte gleicht das Fernsehbilanzierungsgeschäft der industriellen Christstollenfertigung. Auf dem Gebäck prangen ja auch immer Aufkleber, die verkünden, das Produkt sei nun 25 Prozent länger geworden.

Aber reicht die schiere Masse tatsächlich, um zu suggerieren, dass der Zuschauer ein ereignisreiches Jahr hinter sich gebracht habe? Oder ist es nicht so, dass sich die Erlebnisse von Flugzeugabsturz-Überlebenden und anderen Traumatisierten, die hier in mit dem immer gleichen Molltönen unterlegten Einspielfilmchen vorgestellt werden und dann zwischen den Werbeunterbrechungen in eineinhalb Minuten ihre Ängste und Sehnsüchte auszubreiten haben, zu einer einzigen sämigen Schicksalssoße angedickt werden? Der Zuschauer schluckt und schluckt, aber all das menschliche Drama bekommt er doch nicht richtig verdaut.

Und so bleibt einem bei all den Sterbefällen und Nahtoderlebnissen am Ende erstaunlicherweise nur der sensationell langweilige Auftritt von Jan Hofer in Erinnerung.

Der "Tagesschau"-Chefsprecher war irgendwann mal in den letzten elf Monaten mit seinem edlen Mercedes-Oldtimer auf Straßenbahngleisen liegen geblieben und erzählte darüber so ausführlich, dass wirklich keine Fragen mehr offen blieben bis auf diese eine: Weshalb tut er das eigentlich nicht im ARD-Rückblick, der unvermeidlicherweise noch folgen wird? Uns schwant Böses.

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