RuhrTriennale "Ich habe zu wenig geredet..."

Christoph Marthaler spielt bei der RuhrTriennale mit den Fragmenten von Charles Ives - und schafft ein faszinierendes Gesamtkunstwerk des Unvollendeten.
Bochumer Jahrhunderthalle (Archiv)

Bochumer Jahrhunderthalle (Archiv)

Foto: dpa

Die Welt ist unfertig. Wer würde das nicht unterschreiben? Seit der Schöpfung, die sicherlich auch verbesserungswürdig gewesen wäre, hat sich zwar viel Erbauliches getan, aber es wurde gleichwohl mit Macht und Grausen alles darangesetzt, einen halbwegs ertragbaren Zustand wieder zu zerstören. In jedem Aufbau verbarg sich schon der Niedergang. Und umgekehrt. So richtete man sich ein in diesem dauerhaften Provisorium, fügte Fragment zu Fragment, begeisterte sich für Ideen, die morgen längst überholt waren, und trauerte Utopien nach, an die man doch gestern eigentlich nie glaubte.

Der große amerikanische Komponist Charles Ives (1874 - 1954) hat einmal versucht, all diese Widersprüche, diese Fragen nach dem Woher und Wohin in einem als monumental gedachten Werk zu vereinen, an- und ausklingen zu lassen: er nannte es natürlich "Universe Symphonie", weil es mehr als das Begreif- und Erkennbare vereinen, über unseren so engen Erlebnisrahmen hinausreichen sollte, und er sprang darin kühn musikalisch von der Vergangenheit in die Zukunft, vom ohrenbetäubenden Klangerlebnis zur lyrischen Kammermusik, von wuchtig-wildem Schlagwerk-Getöse zu symphonischer Strenge.

Ives schwang sich vom Himmel auf die Erde, zurück zum Firmament, er beschwor die Natur und ließ den Menschen ein in diese Welt. Über allem lag ein strenges kompositorisches Raster, ausgeklügelt und verzweigt, sich selber sprengend - und so kompliziert, dass der Komponist nicht mehr zurande kam. Ives gab auf; aber warum sollte er nicht scheitern mit seiner Musik, wenn auch Gott selbst schon nicht ganz fertig wurde mit seinem Werk?

Ives hinterließ Stückwerk: Skizzen, Partituren, Zettel, Entwürfe. Und er verfügte: "Für den Fall, dass es mir nicht gelingen sollte, dieses Werk zu vollenden, findet sich vielleicht jemand anderes, der den Versuch unternimmt, meine Gedanken auszuarbeiten." So etwas lässt sich ein Regisseur wie Christoph Marthaler nicht zweimal sagen. Die Aufforderung, ein genial angedachtes Kunstwerk, das wie ein Torso in den Ohren liegt, auch bildlich zu vervollständigen, war für den Schweizer Zelebrierer der theatralischen Langsamkeit und Hohen Priester der szenischen Zeitverlorenheit die Herausforderung. Die Leerstellen, die Ives hinterließ, wollte Marthaler mit der Macht seiner Fantasie ausfüllen.

Kakophonischer Nervenkitzel

"Incomplete" setzte er ebenso selbstbewusst wie mit dem melancholisch eingestandenen Wissen um die eigene Unzulänglichkeit hinter "Universe". Und schon hatte er das Gerüst für ein faszinierendes Gesamtkunstwerk des Unvollendeten, das beginnt mit Perkussionstönen, die aus der Unendlichkeit zu kommen scheinen, sich versteckt im Unsichtbaren und im Gestänge hoch über unseren Köpfen und so poetisch sphärisch endet, dass zumindest musikalisch die dissonanten Störtöne den seltsam besänftigenden Ausklang kaum trüben können. Vielleicht liegt ja gerade im Fehlenden das Schöne verborgen?

Die RuhrTriennale bot Marthaler den richtigen, den großen Rahmen für seine Suche in den Untiefen des unvollständigen Universums: ein Dutzend Schauspieler, zwei Pianisten, die kompletten Bochumer Symphoniker, das in vielen (kammer-)musikalischen Grenzbereichen experimentierende "Rhetoric Project" von Titus Engel (der auch die gesamte musikalische Leitung hatte), ein Schlagquartett aus Köln und Schlagzeug-Studenten verschiedener Hochschulen; dazu endlich die Bochumer Jahrhunderthalle mit ihrem verwirrenden nackten Stahl-Gerippe, die in ihrer ganzen endlosen Breite von Anna Viebrock und Thilo Albers gestaltet wurde. Ein perfekter, aus der Zeit gefallener Raum für den Klang, die Stille und für die Bilder, die Marthaler aus den Kompositionen Ives' heraushört.

Denn er nimmt sich nicht nur die Symphonie vor, er mixt dieses Puzzle mit vielen anderen Teilen aus dem vielschichtigen Werk des Amerikaners (vom Ragtime bis zum Kunstlied) und er lässt die unterschiedlichsten Stile nicht nur nebeneinander existieren, er durchmixt sie, überlagert sie, lässt sie gegeneinander ankämpfen bis zum kakophonischen Nervenkitzel. So entsteht eben jener Klang-Raum und Raum-Klang , der Ives vorgeschwebt haben mag, wenn er von seiner Musik verlangte, dass sie nicht im Jetzt und einem modischen Geschmack steckenbleiben, sondern allumgreifend sein soll, über das einfache Empfinden und das starre Denken hinaus.

Ein Verknäulen von Körpern

Hier nun kommen die Menschen bei Marthaler in ein Spiel, das keinen Anfang und kein Ende in der Auseinandersetzung mit der Wahrheit und der Lüge, mit den Wünschen und Enttäuschungen kennt. Sie bevölkern die weitläufig mit Bankreihen, Konferenztischen, Tribünen bestückte Szenerie als Verirrte und Suchende. Mit ihren Einsamkeiten gehen sie hausieren, immer wieder buhlen sie um den Kontakt mit dem Nächsten, doch mündet alles doch nur in einen verzweifelten Kampf, dem sie nicht gewachsen zu sein scheinen. Sie sacken zusammen, fallen um wie gefällt; sie gehen verloren oder irren als Vergessene durch das Nichts; sie fallen sich in die fremden Sprachen, sie formieren sich zum Tanz, der dann nur ein Verknäulen von Körpern ist, die gierig nach Kontakt und unfähig zur Nähe sind.

In Satzfetzen artikulieren sie ihre Ängste. Da mag es immer wieder um den 11. September gehen, da wird allen Mördern der Zivilisation sarkastisch ein "You are leaving the american sector" entgegengeschleudert, da kommt es aber vor allem in einer Tour de Farce zu Missverständnissen. Marthaler bricht mit den Texten (von Gerhard Falkner und Martin Kippenberger) das Universum herunter und zeigt das Chaos der kleinteiligen Begegnungen und Entfremdungen von Menschen, die im kollektiven Quietschen mit den Stuhlbeinen für einen Augenblick noch mehr Gemeinsamkeit finden als in einem Gespräch, zu dem es nie wirklich kommt.

Auch sie alle scheitern: sie brabbeln von den - auch geistigen - Verlusten dieser Zeit ("Nietzsche to go" und wer Osip Mandelstam war, weiß heute keiner mehr) und jammern über ihre eigenen Versäumnisse: "Ich habe zu wenig geschlafen in diesem Jahrhundert", sagt da einer. Doch der andere erwidert: "Ich habe zu wenig geredet..." Vielleicht ist das der zentrale Satz in Marthalers Arbeit. Eine Klage.

Versäumnisse wohin man blickt und hört, Ratlosigkeit (ein Werk von Ives heißt schließlich "The Unanswered Question"!) und irgendwie finden sie sich alle vor dem "Grabmal der unbekannten Sekunden" wieder. Die Zeit der Entscheidung war reif, aber sie ist verstrichen. Aus dem Unfertigen wurde nichts Ganzes geformt. Dann stehen sie da, verkrampft und wie eingefroren. Handlungsunfähig. Die Musik verabschiedet sie perfide mit fast höhnisch schmeichelndem Klang. Ein wunderbares Ereignis!

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