
"Sänger ohne Schatten": In "Wie" liegt der Unterschied
"Sänger ohne Schatten" bei der Ruhrtriennale Erst der Gesang und dann die Nudel
Die Industriekulisse bleibt ausgesperrt. Zunächst. Ein schwarzer Kasten steht verschlossen in der Gladbecker Halle Zweckel: Probenraum oder Kammermusiksaal. Jedenfalls nicht die große Opernbühne. Später fährt die Black Box hoch, und der weite Raum mit seinem stillstehenden Räderwerk eröffnet sich und bringt die Sänger in der Ferne zum Verschwinden.
Der Titel "Sänger ohne Schatten", Boris Nikitins Recherche-Projekt für die Ruhrtriennale, suggeriert, Künstler seien unfertige Menschen. Untote gar. Aber ist der fehlende Schatten Mangelerscheinung, der Seelenlosigkeit symbolisiert wie bei Peter Schlemihl und der "Frau ohne Schatten" von Richard Strauss, die im Verlauf der 90 Minuten angesungen wird? Oder sagt er etwas über das Erscheinungsbild des Künstlers, der seine dunkle (schwache) Seite verbirgt und lieber voll ausgeleuchtet dasteht?
Der Tenor Christoph Homberger, bekannt aus Arbeiten mit Christoph Marthaler, hat den Opernbetrieb der Illusionserzeugung drangegeben, rebelliert gegen dessen Routine und ist doch in seiner Widerborstigkeit selbst Routinier. Florestan im zweiten Akt des "Fidelio" liegt bei ihm schmerbäuchig da und schmettert sein strahlendes "Gott" in falscher Verstärkung: Denn müsste der arme Kerl nicht ausgezehrt sein an Leib und Seele? Nicht Belcanto interessiert ihn, sondern die Beschäftigung mit dem "Material", wozu er die Stimme zählt. Überhaupt hört er demnächst auf und eröffnet im heimatlichen Zürich ein Restaurant.
Die Fiktion schafft Manipulation
Körper, Rolle, Identität liegen auf dem Seziertisch. Die Form und Technik, in der sie wieder montiert werden, sind das Fragment, der Ausschnitt, die Episode und Materialsammlung. So blickt uns immer ein Frankenstein-Monster an. Selbst noch in der schönsten Stimmlage wie beim Countertenor Yosemeh Adjei, Ghanaer aus Nürnberg, der sich a capella emphatisch mit einer Händel-Arie vorstellt. Nikitin beobachtet Adjei von der Stimm- und Lockerungsübung bis zur Großaufnahme auf der Videoleinwand, die er hier als medialen Verstärker ironisch einsetzt.
Karan Armstrong, die große Sopranistin aus Montana, "Primadonna der Moderne" und Witwe von Götz Friedrich, braucht diese Lupe nicht. Sie ist, als Künstlerin und Persönlichkeit, bigger than life - und noch im Rollstuhl nach akutem Bandscheibenvorfall das Glück der Aufführung und bietet den höchsten Erkenntnisgewinn. Ihre Präsenz, feine Noblesse und Lebenswahrheit mit eingezogener Leidensspur ergeben das Surplus der Rollen, sind der "Schatten" ihrer Darstellung. So singt sie Isoldes Liebestod und die Marschallin im "Rosenkavalier" innig verhalten und wissend ums Ende. Armstrong macht gute Miene, als bei ihrer Partie der Marie (Alban Bergs "Wozzeck") Homberger hereinplatzt, einen Teller Spaghetti wie im "Großen Fressen" mampft und gleichzeitig aus dem "Rosenkavalier" singt. Mit vollem Mund, aber exakt artikulierend: Prima la Musica und erst im zweiten Gang die Nudel.
Aber was bringen solche Dekonstruktionen von Bühnen-Gefühlsvorgängen und -Strategien, die Armstrong beschreibt als Balance von Emotion und Distanz, Erfahrung und professioneller Abstraktion? Die Qualität von Nikitin liegt mehr im Betrachten dessen, wie Stimme und Körper sich zueinander verhalten, auseinanderfallen, graduell verschieben, wie der Herstellungsprozess von Ausdruck unter jeweiligen Bedingungen mutiert. Der Schweizer, Jahrgang 1979, misst Grenzen von Wahrheit und Verstellung, Oberfläche und Innenraum aus. Eines seiner Stücke hieß nach Orson Welles "F wie Fälschung", ein anderes nach Douglas Sirks Film "Imitation of life". Die Fiktion schafft Manipulation, die man vormals Magie nennen durfte, wobei der Angewandte Theaterwissenschaftler Nikitin es mehr mit René Pollesch halten wird, dem zufolge das Theater von der Lüge befreie, Wahrheit darstellen zu müssen.
Es gibt hinreißende Momente, wenn das von Stefan Wirth am Klavier begleitete Trio von der Bach-Passion zu Puccini wechselt und übergangslos zu Jacques Offenbach, wenn es Wiederholungsschleifen einzieht, Kaffeepause einlegt, die Bühnen-Verabredung als spontan ausgibt, sich verspiegelt - oder einfach abgeht. Ist das Lüften des Musik-Vakuums nun Befreiung oder Entzauberung? Der zweigeteilte Abend reflektiert seine Themen "Die Wiederauferstehung der Toten" und "Doppelgänger" (mit Schubert und Szymanowski) nur bedingt. Das Befragen von Authentizität gleitet an Karan Armstrong jedenfalls ab, die die Performance mit dem klugen Wort der Marschallin zu Verzicht und Erdulden beendet: "Und in dem 'Wie', da liegt der ganze Unterschied." Eben.
Sänger ohne Schatten. Weitere Vorstellungen am 28., 29. und 30.8. sowie 5., 6. und 7.9. in der Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck, Ruhrtriennale