
S.P.O.N. - Der Kritiker Die Stunde der Wirklichkeitsverdreher

Was ist Schuld? Aischylos hat das alles schon einmal durchgespielt, in seiner "Orestie", vor 2500 Jahren: Am Beginn der Demokratie steht eine Schuld, die vom Einzelnen auf die Gemeinschaft übergeht. Nur so ist Gemeinschaft möglich. Das heißt nicht, dass diese Schuld verschwindet.
Im Gegenteil. Die Schuld ist immer präsent, wo Menschen handeln. Gesellschaft ist vergemeinschaftete Schuld, in den Institutionen und Apparaten bleibt sie bestehen, in den Entscheidungen prägt sie sich neu aus. Und weil sie nicht verschwindet, kann die Schuld, die allgemein moralische und die direkt juristische, aus den Abläufen auch wieder auf den Einzelnen übergehen.
Thomas de Maizière zum Beispiel. Was ist seine Schuld, ganz unmittelbar und persönlich, wenn er fordert, syrische Flüchtlinge wieder zurückzuschicken zu Fassbomben, Giftgas und Tod an drei verschiedenen Fronten? Wie offensichtlich ist er verantwortlich, wenn Frauen und Kindern, denen er den Nachzug nach Deutschland verbieten will, zerfetzt werden? Und wie würde seine Anklage lauten vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte?
Es sind ja mittlerweile deutlich tragödische Zustände: Die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 etwa war ein weiterer, neuzeitlicher Versuch, die Furien unserer Zeit zu bändigen, den Rachegöttinnen, die die Völker aufhetzen, die Macht über die Lebenden zu nehmen - deutsche Politik allerdings ist es derzeit, die diesen zivilisatorischen Schritt wieder rückgängig macht.
Populäre Täter-Opfer-Verdrehung
Ob es ein Coup gegen die Kanzlerin war oder abgesprochen - de Maizières Vorschlag stellt einen Bruch dar mit allem, was verantwortungsvolle Politik sein sollte: Politisch passt er zum grassierenden Opportunismus, mit dem in dieser Krise Diktatoren von Erdogan bis Assad umworben werden. Moralisch schiebt er Schuld und Verantwortung denen zu, die leiden und sterben, es ist eine Täter-Opfer-Verdrehung, wie sie zurzeit sehr populär ist.
Und schizophren ist sein Vorschlag sowieso, weil einerseits Familien explizit einen besonderen staatlichen Schutz genießen, Grundgesetz Artikel 6, und andererseits im aktuellen AfD-Modus stets genau vor den alleinreisenden "jungen Männern" gewarnt wird, die nun das Ergebnis von de Maizières populistischer Panikpolitik sind.
Womit wir bei Jürgen Mannke wären, Vorsitzender des Philologenverbandes Sachsen-Anhalt und ein Mann, der so gut wie alle Klischees erfüllt, die man gegenüber strengen, unsympatischen und offensichtlich sexuell unterdrückten Lehrern haben kann.
Wie sonst käme man wie er auf die Idee, wieder im mittlerweile bekannten AfD-Lügenmodus, in einem Leitartikel davon zu schwadronieren, "wie wir unsere jungen Mädchen im Alter von 12 Jahren so aufklären" können, "dass sie sich nicht auf ein oberflächliches sexuelles Abenteuer mit sicher oft attraktiven muslimischen Männern einlassen"?
Mannke, wie de Maizière ein dringender Kandidat für sofortigen Rücktritt wegen persönlicher und moralischer Überforderung, spricht von einer "Immigranteninvasion", die derzeit Deutschland überschwappt - das ist der hetzerische Ton aller Angstmacher und Wirklichkeitsverdreher: Die Ursachen für Flucht und Vertreibung sind real, sie sind bekannt, und gerade die Schule als zentrale demokratische Institution sollte wenigstens ein Mindestmaß an Verantwortung in der gegenwärtigen Situation haben.
Mohameds Tod hätte ein Fanal sein können
Aber es sind ja diese Bilder, die seit Wochen schon beschworen werden, die Bilder der Invasion, der Überforderung, des Zusammenbruchs der zivilisatorischen Maßstäbe - und wo sich diese Bilder nicht von selbst einstellen, wird eben nachgeholfen, wie etwa im Berliner Lageso, wo die katastrophalen Umstände bürokratisch gewollt sind, sonst hätte man in dieser Zeit, wie in anderen Städten auch, menschenwürdige Zustände schaffen können.
Was die Frage aufwirft, wie es etwa um die Schuld von Mario Czaja steht - der Berliner Sozialsenator von der CDU, der für das Lageso verantwortlich ist, für die offensichtlichen Missstände dort, die von Korruptionsvorwürfen bis Gewalt gegen Flüchtlinge gehen, für die kauernden Menschen in der Kälte, Kinder, Krankheiten, für das brutale Chaos, das dort herrscht und das es dem Mörder des vierjährigen Mohamed ermöglichte, den Jungen einfach mitzunehmen.
Vor wenigen Tagen wurde Mohamed in Berlin beerdigt. Mario Czaja war nicht gekommen. Wie direkt ist die Verbindung zwischen Behördenversagen oder Behördenwillkür und den Umständen von Mohameds Tod? Und was wäre daraus die Konsequenz, politisch und juristisch?
Aber diese Fragen werden nicht gestellt. Mohameds Tod hätte ein Fanal sein können, es hätte einen Aufschrei der Empörung geben können.
Der 9. November ist ein schwieriger deutscher Tag
Stattdessen beginnen jetzt manche Zeitungen eine Art publizistische Gegenoffensive, die sich in der Konsequenz nicht viel von dem unterscheidet, was sich seit Monaten im hässlichen Wort von der "Lügenpresse" bündelt: Ulrich Clauß in der "Welt" etwa oder Michael Hanfeld in der "Frankfurter Allgemeinen", der in einem Leitartikel auf Seite 1, mittlerweile eine Art tägliches Merkel-muss-weg-Forum, ARD und ZDF unterstellte, sie würden bewusst die Wahrheit verhindern und einen ideologischen "Willkommens-Rundfunk" betreiben.
Dabei ist es doch im Gegenteil absurd, wie viel Sendezeit eine Partei wie die AfD bekommt, die noch nicht einmal im Bundestag vertreten ist. Wie von Talkshow zu Talkshow Höcke oder Petry ihre Plattform bekommen. Wie sich Journalisten jetzt schon darüber aufregen, wenn man AfD oder Pegida zu hart kritisiert, als ob es etwas ändern würde, wenn man Hetzer weniger reizt.
Aber Hetzer, das weiß der "FAZ"-Mann Jasper von Altenbockum wiederum, sind ja nicht die Fremdenfeinde mit Galgen und Widerstandsfahnen, Hetzer sind die, die vor Fremdenfeindlichkeit warnen.
Was also ist Schuld? Und was ist Verantwortung? Der 9. November ist ein Tag, an dem sich solche Fragen stellen. Er ist ein schwieriger deutscher Tag. Und wird es immer bleiben.